Historisch-philologischer Kommentar zur Chronik des Johannes MalalasBuch 18, Kapitel 110die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der HAdW-Forschungsstelle MalalasExport vom 20240328-000004daffi/HAdW20240328Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Forschungsstelle Malalas-KommentarCC BY-NC-SA 4.0
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20240328-000004die Mitarbeiter der HAdW-Forschungsstelle
Kapitel XVIII 110 berichtet von der Entsendung des
Eunuchen Narses nach Italien, der im dortigen Konflikt mit den Goten nach dem
erneuten Verlust Roms (550) als neuer Oberbefehlshaber eingreifen sollte.
Fragm. Tusc. S. 26 Mai; Theoph. 227, 17–20 de Boor, Cedr. 659,
4–6 Bekker = 409.5 20–23 Tartaglia
Der gesamte Abschnitt weist die gleiche Struktur wie Kapitel XVIII 88
auf, mit dem er thematisch verbunden ist:
|*XVIII 88,1--3*|*XVIII 110,1--2*|
|Καὶ τῷ αὐτῷ χρόνῳ|Ἐν αὐτῷ δὲ τῷ χρόνῳ|
|κατεπέμφθη Βελισάριος ἐν Ῥώμῃ|κατεπέμφθη καὶ Ναρσῆς ὁ
|κουβικουλάριος ἐν Ῥώμῃ|
|καὶ πολεμήσας παρέλαβε τήν τε Ῥώμην καὶ Σικελίαν καὶ τὰς πέριξ πόλεις
|κρατουμένας ὑπὸ Οὐιττιγή, ῥηγὸς τῶν Γότθων.|ἐπὶ τὸ πολεμῆσαι τοῖς
|Γότθοις.|
Diese Parallele lädt dazu ein, eine intratextuelle Beziehung zwischen
XVIII 88 und 110 zu sehen, wobei nicht nur XVIII 110 mit den Worten
μετὰ τὸ παραλαβεῖν Βελισσάριον Ῥώμην auf 88 rückweist, aber auch XVIII
88 mit den Worten Καὶ μετ’ ὀλίγον καιρὸν ὁ αὐτὸς βασιλεὺς ἔπεμψε Ναρσῆν
τὸν κουβικουλάριον μετὰ πολλῆς βοηθείας ἐν Ῥώμῃ κατὰ τῶν αὐτῶν Γότθων
110 vorgreift: 18, 110.
Dadurch scheint der Verfasser dieses Teils des Textes trotz der rein
annalistischen Form dieser Abschnitte die Kohärenz der Ereignisse bzw.
seiner Darstellung zu verstärken.
(Olivier Gengler)
1|1
Zu den Zeitformeln ἐν αὐτῷ (δὲ) τῷ χρόνῳ und ἐν (δὲ) τῷ αὐτῷ
χρόνῳ, 18, 40 bzw. 18, 42.
Diese vage Angabe bezieht sich dem Augenschein nach auf die in XVIII
106 zuletzt genannte dreizehnte Indiktion (549/50). Theophanes (228,
16–17 de Boor) legt das Ereignis hingegen in den April 551, was der
vierzehnten Indiktion und gleichzeitig dem von Prokop angegebenen,
sicher richtigen Datum (Frühjahr 551: Procop. BG IV 21,4–6) entspricht. Stein (1949), 800 mit
Anm. 5, nimmt an, dass Theophanes in diesem Fall "l'original malalien"
überliefert, lässt dabei allerdings die Fragmenta
Tusuculana (Thurn
(2000), 412, +29) unberücksichtigt, die die
dreizehnte Indiktion explizit bestätigen. Es ist daher davon
auszugehen, dass eine entsprechende Angabe, wenn sie nicht schon im
"Ur-Malalas" stand, so doch jedenfalls bereits sehr früh in die
Malalas-Tradition Eingang gefunden hat. Mango, Scott
(1997), 332, Anm. 1 vermuten, Theophanes habe die
Fehler in der chronologischen Abfolge bei Malalas (18, 111) bemerkt und in seiner eigenen Schrift
eine Korrektur vorgenommen.
(Jonas Borsch)
1|6
"wurde auch ... ausgeschickt": Die Verwendung der Konjunktion καί
bezieht sich hier auf die folgende Erwähnung von Belisar, der den Krieg
gegen die Goten bisher angeführt hatte (18,
110), bzw. auf Belisars Entsendung in XVIII 88,1 (18, 110). Es handelt sich genau genommen um die
zweite Mission des Narses, der bereits 538 kurzzeitig nach Italien
geschickt worden war (zu dieser Expedition, dem Konflikt mit dem
damaligen Oberbefehlshaber Belisar und Narses' Rückberufung Fauber (1990), 45–51;
Brodka
(2018), 69–107, s. auch 18,
66).
(Jonas Borsch)
1f.|6
Der Abschnitt wiederholt inhaltlich XVIII 88,6--7 in der ebenfalls eine
Entsendung des Narses in Richtung Italien thematisiert wird (vgl.
bereits Jeffreys, Jeffreys, Scott
(1986), 285 zu Malal. XVIII 88 mit Querverweis auf
die hiesige Passage). Dabei könnte ein chronologisch fehlerhafter
Verweis auf Narses' erste, kurzzeitige Entsendung 538 vorliegen; der
Text lässt es aber auch durchaus zu, in der dortigen Notiz bereits
einen Verweis auf Narses' hiesige Mission – im Sinne eines zeitlichen
Vorgriffes – zu sehen: 18, 88. Die
Hypothese scheint dadurch bestätigt zu werden, dass die Ereignisse,
über die XVIII 88,1--5 berichtet, hier im zweiten Teil des Abschnittes
wiederholt (die Eroberung der Stadt Rom durch Belisar) bzw. ergänzt
werden (die Rückeroberung durch den Goten): 18,
110.
(Jonas Borsch)
1|8
Zur Person des Narses (PLRE IIIB (Narses 1), 912–928) 18, 66.
(Jonas Borsch)
1|8
Zur Deklination des Eigennamens Ναρσής (bzw. -ῆς) in der
Malalas-Chronik 18, 90.
(Laura Carrara)
2|1
Ortsbestimmungen mit ἐν + Dativ dort, wo man klassisch Richtungsangaben
mit εἰς + Akkusativ erwartet hätte, d.h. nach geläufigen Verben der
Bewegung ('gehen (nach)', 'schicken/geschickt werden (nach)' usw., an
dieser Stelle κατεπέμφθη), finden sich sehr oft in der O-Version der
Malalas-Chronik, 18, 43.
Beide Parallelstellen – Fragm. Tusc. IV, p.
26 und Theoph. 227, 18 de Boor – haben die (regelkonforme) Lesart εἰς
Ῥώμην, die man – falls man überhaupt nach einer Rekonstruktion des
Textes des Ur-Malalas streben sollte – dafür in Erwägung ziehen könnte.
(Laura Carrara)
2|1
Die Stadt Rom steht hier, wie schon zuvor (18,
88), offenbar stellvertretend für ganz Italien. Das wechselhafte
Schicksal der Stadt stand gerade in der in diesem Abschnitt skizzierten
Kriegsphase besonders im Vordergrund: 18,
110. Narses war zunächst nicht direkt nach Italien aufgebrochen,
sondern hielt sich im Illyricum auf; erst im Juni 552 traf er in
Ravenna ein: Vgl. zusammenfassend Wolfram (1990b),
357f.; Brodka
(2018), 129–139.
(Jonas Borsch)
2|3
Die Präposition ἐπί regiert in der O-Version der Malalas-Chronik vier
bis sechs Male (d.h. relativ selten; zu den zwei unsicheren Stellen s.
gleich unten) einen durch den Akkusativ-Artikel substantivierten
Infinitiv, welcher zur Angabe eines Zweckes dient: Vgl. neben
vorliegender Stelle die sicheren Belege in Malal. X 49 ἔπεμψεν ἐν
Ἀντιοχείᾳ τῇ μεγάλῃ ἐπὶ τὸ ἐκεῖ αὐτὸν οἰκεῖν; Malal. XII 48 ἀπέστειλεν
Μάξιμον τὸν καὶ Λικινιανὸν … ἐπὶ τὸ φυλάττειν τὰ μέρη; Malal. XVIII 15
εἰς τὴν χώραν τῶν Ἀμεριτῶν ἐπὶ τὸ ποιήσασθαι πραγματείαν. Unsicher
bleiben Malal. XVIII 129 (von Thurn ergänzt aus Theoph. 234, 4–5 de
Boor) ἐπὶ τὸ κτίσαι τὸ τεῖχο und Malal. XVIII 66 (hier überliefert die
Handschrift O die einmalige Wendung ἐπί mit finalem Infinitiv im Dativ
[ἐξέπεμψεν Νάρσην κουβικουλάριον ἐπὶ τῷ παραλαβεῖν τὰ ἀποκείμενα],
welche jedoch von den Herausgebern zu ἐπὶ τὸ παραλαβεῖν normalisiert
worden ist, 18, 66).
An den vier sicheren Stellen (Malal. X 49; XII 48; XVIII 15; XVIII
110) steht die Kombination ἐπί + Infinitiv Akkusativ nach einem Verb
der Bewegung ('gehen', 'schicken' o.ä). Es ist möglich, dass diese
Kombination punktuell nur dort als Ersatz der sonst üblichen Formel
εἰς + τὸ mit finalem Infinitiv eingesetzt wurde, wo entweder ein
lokales εἰς bereits vorkam (um Verwechslung zu vermeiden, vgl.
Malal. XVIII 15 εἰς τὴν χώραν ... ἐπὶ τὸ ποιήσασθαι; dasselbe
vielleicht auch an vorliegender Stelle, falls statt ἐν Ῥώμῃ im
'Ur-Malalas' εἰς Ῥώμην zu lesen war, 18,
110) oder die Präposition εἰς als eine Richtungsangabe hätte
missverstanden werden können. Alternativ ist denkbar, dass im
'Ur-Malalas' die in O nur einmal belegte (Malal. XVIII 66, 18, 66), in anderen genreverwandten Werken
aber sicher bezeugte finale Konstruktion ἐπὶ τῷ + Infinitiv stand
(vgl. dafür auch die Lesart in Fragm.
Tusc. IV, p. 26 Mai ἐπὶ τῷ πολεμῆσαι für vorliegende Stelle)
und dass ἐπί τὸ bloß deren Korruptel ist, begünstigt durch die
Tatsache, dass τῷ und τό lautlich nicht mehr zu unterscheiden waren;
siehe zur Problematik Weierholt
(1963), 48–49.
(Laura Carrara)
2|3
Der Auftrag des Narses wird von Theophanes (227,18 de Boor) in
ähnlicher Formulierung bestätigt: ὀφείλων πολεμῆσαι τοῖς Γότθοις ("with
instructions to make war on the Goths", Mango, Scott
(1997), 332). Seine Entsendung fällt in die Phase
nach der Eroberung Roms durch Totila Anfang 550. Justinian hatte
zunächst seinen mit der Enkelin Theoderichs d. Großen Matasunta
verheirateten Neffen Germanus (18, 87) für
die Aufgabe vorgesehen; dieser war jedoch noch während der
Feldzugsvorbereitungen verstorben. Narses war demnach erst Justinians
zweite Wahl, was aus Malalas' Darstellung aber nicht hervorgeht.
Die Berufung des Narses thematisiert auch Procop. BG IV 21,6, der sich darüber wundert, dass der
Eunuch den alleinigen Oberbefehl erhielt; vgl. zur "mehr als
reservierten" Haltung Prokops gegenüber Narses Veh (1970), 1094 ad loc. Ähnliche Vorbehalte klingen bei Malalas
nicht an. Narses tritt vielmehr gerade in Malalas' Italien-Abschnitten
stark in den Vordergrund und wird als erfolgreicher Verhandler und
Feldherr charakterisiert (vgl. Puech (2006), 225; 18, 66).
(Jonas Borsch)
2|8
Malalas' beliebteste Konjunktion zur Einleitung eines Kausalsatzes,
siehe Weierholt
(1963), 62–63; Helms (1971), 343–346,
380 (Stellensammlung). Der nachgestellte Kausalsatz erläutert die
Voraussetzung bzw. den Hintergrund (d.h. den erneuten Verlust Roms an
die Goten) für die im Hauptsatz thematisierte Aktion: κατεπέμφθη.
(Laura Carrara)
2f.|8
Es handelt sich hier um einen stark verkürzten Rückblick auf die
vorangegangenen Kriegshandlungen. Malalas hatte die Kriege in Italien
bis hierhin zwei Mal erwähnt: In XVIII 88 wird in aller Kürze Belisars
erster Feldzug von 535 bis 540 zusammengefasst; XVIII 97 verweist in
einem Satz auf die Eroberung Roms durch die Goten im Herbst 546. Die
hiesige Skizze muss sich demnach auf die nun folgende Kriegsphase
beziehen: Belisar hatte Rom nach dem Rückzug von Totilas (18, 116) Goten aus der schwer zu verteidigenden
Stadt bereits im Frühjahr 547 wieder einnehmen können. Nach
wechselhaften Kämpfen und disziplinarischen Problemen in der Truppe
wurde er jedoch 548/49 abberufen; der Posten des Oberbefehlshabers
blieb in der Folge zunächst vakant. 550 gelang es Totila schließlich
erneut, Rom zu erobern (vgl. zu dieser Kriegsphase und den Reaktionen
in Konstantinopel Procop. BG III 22–30,
35–38; dazu Stein
(1949), 584–597; Wolfram (1990b),
355–357; Leppin
(2011a), 270f.). Malalas' knapper Satz entspricht
diesem Verlauf durchaus und passt als Rückblick auch zeitlich ins Bild.
Angesichts des Kontextes kann er sich gut auf die Eroberung Roms 550
beziehen, die somit nicht, wie Leppin (2011a), 270
meint, aus dem Bericht ausgeblendet würde. Die Passage ist auch
durchaus nicht "confused", wie Mango, Scott
(1997), 332 Anm. 2 unter Bezug auf den nahezu
wortgleichen Text bei Theophanes urteilen: Sie stellt vielmehr eine
starke Komprimierung des Sachverhaltes dar, die für die Darstellung der
justinianischen Italienfeldzüge in der Chronographia charakteristisch ist. Das
wechselhafte Kriegsgeschehen in Italien, die Rolle Belisars oder die
Chronologie treten in den drei relevanten Passagen (XVIII 88, 97, 110)
in den Hintergrund. Im Zentrum stehen generelle Auskünfte darüber, dass
zwei unterschiedliche Feldherren – Belisar und Narses – in Italien
gekämpft hatten, dass der erste zunächst Erfolge gefeiert hatte, es
dann zu Rückschlägen gekommen war, und schließlich unter Führung des
zweiten Feldherrn der Sieg errungen worden war.
(Jonas Borsch)
2f.|9
Substantivierter Infinitiv nach der Präposition μετά in der Funktion
eines temporalen Nebensatzes, mit Subjekt wie auch Objekt im Akkusativ.
Dieselbe Konstruktion kommt dreimal in der Chronik vor, bei Mal. XII 45
μετὰ δὲ τὸ ἀποθέσθαι Διοκλητιανὸν τὴν βασιλείαν, "nachdem aber
Diokletian die Herrschaft abgelegt hatte", Mal. XII 47 μετὰ τὸ
ἀποθέσθαι τὴν βασιλείαν Μαξιμιανόν, "nachdem Maximianus die Herrschaft
abgelegt hatte", und Mal. XVII 12 μετὰ τὸ καταλαβεῖν αὐτὸν τὴν
ἀνατολήν, "nachdem er den Osten erreicht hatte"; siehe dazu Rüger (1895), 7, 44;
Weierholt
(1963), 44–45.
(Laura Carrara)
2|11
Die Handschrift O (f. 314) überliefert an dieser Stelle nicht
παραλαβεῖν, sondern das Simplex λαβεῖν. Eine Korrektur supra lineam suggeriert das Kompositum περιλαβεῖν
(mittels eines Abkürzungszeichens für die Präposition); Dindorf (1831), 485
setzte dies in den Text. Bereits Chilmead (1691), II,
228 Anm. 4 hatte allerdings gesehen, dass die hier semantisch passende
Form nicht περιλαβεῖν, sondern ein anderes Kompositum von λαμβάνω mit
π-Anlaut ist: παραλαβεῖν; für παραλαμβάνω als 'eine Stadt (o.ä.)
erobern, einnehmen' vgl. z.B. Hdt. 3, 7, 1 Πέρσαι ... τάχιστα παρέλαβον
Αἵγυπτον; Thuc 1, 19, 1 Ἀθηναῖοι δὲ ναῦς τε τῶν πόλεων ... παραλαβόντες
und LSJ I 3 s.v. παραλαμβάνω. παραλαβεῖν wird bestätigt durch die
Parallelüberlieferung in Fragm. Tusc. IV,
p. 26 Mai und in Theoph. 227, 19 de Boor; es kommt auch im Text von O
als Hauptverb (παρελήφθη) des Satzes vor und im mit dieser Stelle
intertextuel verbundenen Abschnitt XVIII 88 (18,
110).
(Laura Carrara)
2|12
Zu Belisar (PLRE IIIA (Belisarius 1), 181–224) 18, 4. Belisars Rückberufung aus Italien 548/49
bleibt in dieser Passage unausgesprochen, sodass man den Eindruck
gewinnen kann, er persönlich habe die abermalige Einnahme Roms
verantwortet.
(Jonas Borsch)
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Narses – Politik, Krieg und Historiographie im 6. Jahrhundert n. Chr..
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