Historisch-philologischer Kommentar zur Chronik des Johannes MalalasBuch 18, Kapitel 85die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der HAdW-Forschungsstelle MalalasExport vom 20240329-000002daffi/HAdW20240329Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Forschungsstelle Malalas-KommentarCC BY-NC-SA 4.0
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20240329-000002die Mitarbeiter der HAdW-Forschungsstelle
Kapitel 85 beschreibt den Wiederaufbau nach dem Nika-
Aufstand sowie zwei Regelungen zur Neuordnung der städtischen Administration in
Konstantinopel.
Procop. Aed. I 10,3; I 10,11–20 Haury; Theoph. 216,24–25 de Boor;
Nov. 13; 80; Procop. Arc. XX 9–11; Lyd.
Mag. II 29; III 70.
Der Hinweis auf Georg. Mon. 627,3–7 de Boor als Zeuge der Parallelüberlieferung in
Thurns Apparat zu diesem Kapitel ist fehl am Platz: Die Georgios-Stelle bezieht sich auf
die Einweihung der Hagia Sophia und gehört somit zur Parallelüberlieferung des folgenden
Kapitels 86.
Die relative chronologische Einordnung bezieht sich aller
Wahrscheinlichkeit nach auf das im Vorkapitel genannte Konsulat
Johannes' des Kappadokers und damit auf das Jahr 538.
1|2
Einfacher Dativus Temporis (d.h. ohne ἐν),
nicht unüblich für diese Formel in der Malalas-Chronik 18, 45.
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Das Verb πληρόω deckt in der Malalas-Chronik verschiedene
Bedeutungsfelder ab. Am einfachsten auf die Grundbedeutung 'füllen mit
(+ Gen.)' (hierfür vgl. Malal. X 12 τὴν γῆν ἐπλήρωσα δακρύων; Malal.
XIII 30 πληρώσας βάθρων; Malal. XVI 6 ὥστε τὸ ἅγιον θυσιαστήριον
πληρωθῆναι αἵματος; Malal. XVIII 60 ἐπλήρωσαν τὸν ποταμὸν λειψάνων)
lässt sich die auch an dieser Stelle bezeugte Verwendung 'zu einem Ende
bringen, vollenden' zurückführen. Dieser Gebrauch von πληρόω kommt
beinahe formelhaft im Kontext der (Nicht-)Vollendung eines Gebäudes
vor: vgl. Malal. IV 10 (2x) πληρώσας τὰ τείχη (ähnlich auch Malal. VII
3; VIII 24; XII 30); Malal. VI 15 ἐπληρώθη δὲ τὸ ἱερὸν δι’ ἐτῶν μʹ;
Malal. X 10 θέατρον οὐκ ἐπλήρωσεν εἰς τέλειον; Malal. X 53; Malal. XIII
3 ἐπλήρωσε τὴν αὐτὴν βασιλικὴν; Malal. XIII 8 καὶ ὅτε πάντα ἐπλήρωσεν;
Malal. XIII 14 πληρωθῆναι τὸ κτίσμα ... τὸ τῆς μεγάλης ἐκκλησίας;
Malal. XIII 30 ἐπλήρωσε τὸν φόρον αὐτοῦ; XIV 13 ἐπλήρωσε τὸ αὐτὸ ἔργον
τῆς βασιλικῆς. Andere mögliche verwandte Usus betreffen z.B. die
Vollendung bzw. das 'Zum-Ende-Bringen' eines Opfers (Malal. IV 10 u.
Malal. V 2; zu diesem Stellenpaar siehe Wolf (1912), 37; Malal.
VIII 11), eines Theaterstücks (Malal. IV 13 Εὐριπίδης ... πληρώσας τὸ
δρᾶμα), einer Herrschaft (Malal. VI 3 ὁ θεός ... ἐπλήρωσε τὴν βασιλείαν
σου) oder des eigenen Lebens (Malal. I 3 κακῶς ἀναλωθέντες ἐπλήρωσαν
τὸν ἴδιον βίον). Aus diesem Bezug zum Leben(sablauf) ist möglicherweise
die Bedeutung 'älter bzw. alt werden' entstanden, welche in Malal. XIV
15 μετὰ τὸ πληρῶσαι αὐτόν und nach der Interpretation von Festugière (1978),
231 vielleicht auch in Malal. XVIII 60 vorzuliegen scheint. Nach
Thurn
(2000), 520 bedeutet πληρόω an letztgenannter
Stelle hingegen 'ein Amt ausfüllen', wie auch in Malal. XIII 4
πληροῦντα τὸν τόπον ... τοῦ ἐπάρχου τῶν πραιτωρίων (wortwörlich 'die
Position eines Eparchen ausfüllen').
1f.|6
Bei der Chalke handelt es sich um den Eingangsbereich (Vestibül) des
großen, unter Konstantin gegründeten Palastes im Südosten der Halbinsel
von Byzanz (zur Chalke Mango
(1959); zur archäologisch kaum erhaltenen
Gesamtanlage Müller-Wiener
(1977), 229–237; Bardill (1999);
[L:Bolognesi Recchi Franceschini+2003]). Die Chalke, deren Gestalt nur
auf Basis von Schriftquellen und einigen wenigen Sondagen rekonstruiert
werden kann, empfing die Besucher vom Augusteion her und bildete einen
für die Öffentlichkeit besonders gut sichtbaren Teil des für die
Allgemeinheit nicht zugänglichen und hinter Hippodrom und Mauern
verborgenen Palastbezirkes. Zweifelsohne diente sie auch dem Zweck, die
Pracht des kaiserlichen Hauses schon den Ankommenden vorzuführen (vgl.
zur Ausstattung unter Anastasios Anthol.
Graec. IX 656, unter Justinian Procop. Aed. I 10,11–20). Der Name Chalke ("Bronzene")
wird in den Quellen mit der Verwendung von Bronze für Dach und/oder
Türen erklärt: Dazu Mango
(1959), 21f. Das Chronicon
Pascale I 627,17–20 bezeugt, dass die Chalke beim Nika-Aufstand
im Jahr 532 von Anhängern der Zirkusparteien niedergebrannt worden war.
Der Wiederaufbau hatte demnach etwa sechs Jahre in Anspruch genommen.
Procop. Aed. I 10,3 bezeichnet die Chalke
als eine der "Schöpfungen" (ἔργα) Justinians, womit er suggeriert, es
habe sich um einen vollständigen Neubau gehandelt.
1|6
Durch den Artikel ἡ substantivierte und kontrahierte Form des
Femininums des Adjektivs χάλκεος, -έα, -εον. Die Malalas-Chronik
verwendet unterschiedslos sowohl die kontrahierten als auch die
unkontrahierten Formen von diesem wie auch von ähnlichen Farbadjektiven
(ἀργύρεος, πορφύρεος, etc.): siehe die Übersicht bei Wolf (1911), 30. Die
Kontraktion erfordert den Zirkumflex: Die Handschrift O überliefert
aber sowohl hier (f. 312) als auch für die Erwähnung derselben
Baustruktur in XVIII 71 (f. 307) die Form mit Akut χαλκή, welche der
Korrektur bedarf. An vorliegender Stelle ist der Zirkumflex von
Dindorf
(1831), 479 wiederhergestellt worden. Die Aussage
von Wolf
(1911), 30, dass im Kapitel des Nika-Aufstandes
die erste Hand χαλκῆ geschrieben habe, kann durch Lektüre des
Digitalisats nicht bestätigt werden.
2|6
'Mosaik'. Laut GLRBP s.v. μουσεῖον or μουσῖον (mit Belegstellen) ist
μουσῖον itazistische Schreibweise (in der Aussprache begründet) von
μουσεῖον; nach dieser Interpretation übernahm der Terminus für 'Museum'
(aufgrund einer – freilich nicht ganz leicht nachvollziehbaren –
Bedeutungserweiterung) in der spätantike Gräzität auch die Bedeutung
'Mosaik'. Nach Festugière
(1978), 229 könnte hingegen μουσῖον das lautliche
Resultat der Übertragung des lateinischen Wortes musivum (dessen Etymologie ebenfalls im Dunkeln
liegt) ins Griechische sein. Das ist der einzige Beleg für μουσῖον in
der Malalas-Chronik; in der Bedeutung 'Mosaik' bzw. 'Mosaiktechnik'
kommt sonst μουσάριον vor, in XII 33 (γράψας ἐν αὐτῷ διὰ μουσαρίου τὸν
Ὠκεανόν) und XIV 13 (ἐπέγραψεν ἐν αὐτῇ διὰ χρυσέου μουσαρίου ταῦτα).
2|7
Die Handschrift O (f. 312) überliefert die Lesart μετενέχθη,
augmentlose passive Aoristform von μεταφέρω. Das Augment wurde
wiederhergestellt von Chilmead
(1691), II, 221.
3|11
Aorist des Verbes περιαιρέω mit Augment, wie üblich bei Verben mit
anlautendem Diphthong αι- in der Malalas-Chronik, siehe Merz (1911), 10. Form
und Bedeutung ('löschen, aufheben', vgl. Thurn (2000), 490 in
Index verborum ad res Byzantines spectantium: "περιαιρέω: tollo") sind
dieselbe wie in Malal. XVIII 107 περιῃρέθη τὸ ὄνομα Μηνᾶ.
4|8
Das Amt des Nykteparchen (18, 18) wurde
unter Justinian in der Tat abgeschafft und in das eines praetor urbi umgewandelt (u.a. unter Verweis auf
die irreführende Bezeichnung, die fälschlicherweise eine nächtliche
Tätigkeit suggeriere): Zu dieser Neuordnung Stein (1949), 803f. Die
entsprechende Novelle (Nov. XIII) datiert
allerdings auf den 15. Oktober 535 und damit nicht weniger als drei
Jahre vor den hiesigen Eintrag in der Chronographie. Da im nächsten Satz die in einer
Novelle auf März 539 datierte Neueinführung der Magistratur des quaesitor in dasselbe Jahr gelegt wird (18, 85), ist Malalas' Chronologie hier
offenkundig unpräzise. Dass die Neuregelungen bei ihm erst verspätet
angekommen sind (vgl. zur Publikation von Gesetzestexten in den Städten
des Reiches 18, 78), erscheint angesichts
der Widersprüche in der Chronologie als Erklärung in diesem Fall nicht
ausreichend.
(Jonas Borsch)
5|3
Diese Nachricht bezieht sich auf die Neuschaffung des Amtes des quaesitor, eingeführt in Nov. LXXX (10. März 539), wo auch die Funktion
näher definiert wird: Angesichts einer großen Zahl von aus den
Provinzen in die Stadt drängenden Landbewohnern wird der neue Magistrat
damit beauftragt, die Zahl und Herkunft der Neuankömmlinge zu erfassen,
diese daran zu hindern, auf den Straßen zu betteln oder zu stehlen und
sie, wo immer möglich, an ihren Herkunftsort zurückzuschicken. Sehr
unscharf umreißt diese Aufgaben Procop. Arc. XX 9, wenn er behauptet, der quaesitor sei dafür zuständig, Sittenverbrecher
zu bestrafen. Dass ein Diskurs über die müßiggängerische
Landbevölkerung in der Hauptstadt bestand, bezeugen Ausführungen über
die ὄχλοι ἄχρηστοι (die unnützen Mengen) der aus den Provinzen in die
Stadt strömenden Landarbeiter in Lyd. Mag.
III 70; Lydos zufolge war das zu harsche Vorgehen von vormals inaktiven
Magistraten wie den praetores und den quaesitores gegen diese Leute eine der Ursachen
für das Ausbrechen eines großen Aufstandes. Letzterer kann nur mit dem
Nika-Aufstand identifiziert werden (vgl. Bandy (1983), 342).
Ungeachtet der chronologischen Schwierigkeiten, die Lydos' Aussage
bereitet, zeigt sie eindeutig, dass Zeitgenossen einen Zusammenhang
zwischen den anwesenden Menschenmassen und dem Ausbrechen des
Aufstandes sahen. Die hier berichteten Maßnahmen beziehen sich insofern
aller Wahrscheinlichkeit nach auf Missstände in der inneren Verwaltung
der Hauptstadt, die durch den Nika-Aufstand sichtbar geworden waren: So
schon Stein
(1949), 455f. Malalas scheint das zu bestätigen,
wenn er die Notizen über die Neuordnung der Magistraturen inmitten
seines Berichtes über den Wiederaufbau Konstantinopels unterbringt und
sie so offenbar zu einem Teil der Nachlese des Aufstandes macht.
(Jonas Borsch)
5|7
Medium und Passiv des Verbes προβάλλω drücken zu Zeiten der
athenischen Demokratie – wenn bezogen auf einen Wahlvorgang – das
'selbst Kandidieren' bzw. 'als Kandidat aufgestellt werden' aus,
siehe LSJ s.v. προβάλλω A II 4 u. B 4 mit Belegstellen. In der
Kaiserzeit bezeichnet das Verb nicht (mehr) die Kandidatur, sondern
die direkte Ernennung zu einem Amt durch die herrschende Macht, siehe
GLRBP s.v. προβάλλω 3 mit Belegstellen. Der Indikativ Aorist von
προβάλλω kommt in diesem Sinne in der Malalas-Chronik wieder wenige
Zeilen später vor, in XVIII 91 Λογγῖνος ἔπαρχος πόλεως προεβλήθη;
vgl. auch Malal. XVIII 34 προεβλήθη ἔξαρχος Ῥωμαίων Βελισσάριος und
in früheren Büchern die Belege in XVII 12; X 14; IX 2. Das
dazugehörige Partizip προβληθείς (bzw. eine dem Satzbau entsprechend
deklinierte Form davon) findet sich in Malal. II 13 (προβληθεὶς ἐκ
τοῦ ἰδίου αὐτοῦ πάππου τοῦ Κηφέως: Bestimmung des Nachfolgers durch
den ausscheidenden alten König); VII 9 (τοῖς παρ’ αὐτοῦ προβληθεῖσιν
ὑπατικοῖς ἄρχουσιν τῶν ἐπαρχιῶν); IX 12 (τὸν προβληθέντα πρῴην ὑπὸ
τοῦ Καίσαρος); XII 5 (προβληθεὶς ἀπὸ τῶν κτητόρων καὶ τοῦ δήμου
παντός). Über die zu dieser späteren Semantik des Verbes προβάλλω gut
passende, lange Zeit aber verkannte Bedeutung 'Beförderung, Ernennung
zu einem Amt' des Substantivs πρόβλησις in Malal. XVIII 137 siehe
jetzt Brandes
(2017), 362–364.
Bandy (1983): Bandy, A. C.:
Ioannes Lydus on Powers or The Magistracies of the Roman State. Introduction, Critical Text, Translation, Commentary, and Indices.
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Bardill (1999): Bardill, J.:
The Great Palace of the Byzantine emperors and the Walker Trust.
Journal of Roman Archaeology 1999, 216-230
Bolognesi Recchi Franceschini (2003): Bolognesi Recchi Franceschini, E. B.:
Das Palastareal in byzantinischer und osmanischer Zeit.
Palatia 2003, 60–69
Brandes (2017): Brandes, Wolfram:
Eine Verschwörung gegen Justinian im Jahre 562 und Johannes Malalas. 2017, 357–392
Chilmead (1691): Chilmead, Edmund:
Johannis Antiocheni cognomento Malalae Historia Chronica … nunc primum edita cum Interpret. & Notis Edm. Chilmeadi ….
Oxonii 1691
Dindorf (1831): Dindorf, Ludwig:
Iohannis Malalae Chronographiae ex recensione L. Dindorfii.
Bonn 1831
Festugière (1978): Festugière, André-Jean:
Notabilia dans Malalas. I.
Revue de Philologie 1978, 221–241
Gizewski (1988): Gizewski, Ch.:
Zur Normativität und Struktur der Verfassungsverhältnisse in der späteren römischen Kaiserzeit.
München 1988
Mango, Scott (1997): Mango, Cyril and Scott, Roger:
The Chronicle of Theophanes Confessor. Byzantine and Near Eastern History AD 284–813.
Oxford 1997
Mango (1959): Mango, C.:
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Merz (1911): Merz, Ludwig:
Zur Flexion des Verbums bei Malalas.
Pirmasens 1911
Müller-Wiener (1977): Müller-Wiener, Wolfgang:
Bildlexikon zur Topographie Istanbuls. Byzantion, Konstantinupolis, Istanbul bis zum Beginn des 17. Jahrhundert.
Tübingen 1977
Rochow (1983): Rochow, Ilse:
Malalas bei Theophanes.
Klio 1983, 459–474
Stein (1949): Stein, Ernest:
Histoire du Bas-Empire, Tome II. De la disparition de l’Empire d’Occident à la mort de Justinien (476–565).
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Thurn (2000): Thurn, Johannes:
Ioannis Malalae Chronographia.
Berolini et Novi Eboraci 2000
Wolf (1911): Wolf, Karl:
Studien zur Sprache des Malalas, Tl. 1: Formenlehre.
Diss. München 1911
Wolf (1912): Wolf, Karl:
Studien zur Sprache des Malalas, Tl. 2: Syntax.
Diss. München 1912