Malalas 17.5 1–3 = 30–32 (Thurn)
Inhalt
In Mal. XVII 5 wird vom Rückruf des früheren Usurpators Vitalian aus dem Exil berichtet. Vitalian wird von Justin zum magister militum praesentalis ernannt und erhält damit ein hohes, unmittelbar in Konstantinopel angesiedeltes Amt.
Philologisch-Historischer Kommentar
Parallelüberlieferung
Literatur
1 (30)
ραννήσαντα Ἀναστασίῳ τῷ βασιλεῖ καὶ τῇ πολιτείᾳ, καὶ ἐποίησεν αὐ-
Philologisch-Historischer Kommentar
1/1 Ὁ δὲ αὐτὸς βασιλεὺς εὐθέως: Wie auch die vorangehenden Kapitel ist der Abschnitt chronologisch nur vage eingeordnet. Anzumerken ist, dass die von O sehr abweichende Textstelle aus den EI die Rückkehr Vitalians ebenfalls mit εὐθέως (‚sofort‘) zeitlich einordnet. Tatsächlich wurde Vitalian schon auf dem Konzil von Tyros am 16. Sept. 518 als patricius und στρατηλάτης akklamiert ([_AOC_] III S. 86,22–23). Laut Marcellinus Comes c. 519 wurde Vitalian am 7. Tag nach seiner Rückkehr zum magister militum ernannt: Vitalianus Scytha Iustini principis pietate ad rem publicam revocatus Constantinopolim ingressus est septimoque receptionis suae die magister militum ordinatus (zur Datierung dieser Episode bei Marcellinus s. Croke 1995, 121).
Johannes von Nikiu (LXXX 5–9 = XC 5 Charles), der von der Malalas-Tradition abhängig ist, assoziiert die Himmelerscheinung von XVII 4 mit dem Rückruf von Vitalian: ‚And in the beginning of the reign of Justin there rose in the east a fearful and terrible comet. And for this reason the emperor Justin sent and recalled Vitalian who had been the enemy of the emperor Anastasius, and appointed him a master of the forces‘ (Übers. Charles). (Olivier Gengler)
Johannes von Nikiu (LXXX 5–9 = XC 5 Charles), der von der Malalas-Tradition abhängig ist, assoziiert die Himmelerscheinung von XVII 4 mit dem Rückruf von Vitalian: ‚And in the beginning of the reign of Justin there rose in the east a fearful and terrible comet. And for this reason the emperor Justin sent and recalled Vitalian who had been the enemy of the emperor Anastasius, and appointed him a master of the forces‘ (Übers. Charles). (Olivier Gengler)
1/6 προετρέψατο καὶ Βιταλιανὸν τὸν τυραννήσαντα Ἀναστασίῳ τῷ βασιλεῖ καὶ τῇ πολιτείᾳ: Vitalian (XVI 16, 1 ) hatte Ende 513/Anfang 514 gegen Anastasios rebelliert (XVII 5, 1 ) und seitdem eine konstante Bedrohung für dessen Regierung gebildet.
Die Rückberufung Vitalians aus seinem Exil in Anchialos am Schwarzen Meer und seine Ernennung zum magister militum prasentalis (XVII 5, 3 ) entsprechen dem zu Beginn von Buch XVII stark präsenten Thema der Machtsicherung, welche Justin mit einer Doppelstrategie aus Abschreckung (Hinrichtung des Amantios: XVII 2) und Milde (Rehabilitierung von Exilierten: XVII 3) bestritt: Dazu Vasiliev 1950, 108–114. Der Fall Vitalians sticht dabei angesichts der besonderen Vorgeschichte des Generals heraus: Sein chalkedonisches Bekenntnis näherte ihn Justin (und mit ihm Justinian) an (s. dazu Stein 1949, 223–225); gleichzeitig war er als ehemaliger Usurpator für den Kaiser potentiell außerordentlich gefährlich. Sein Rückruf bildet den Beginn einer vielfach dokumentierten, raschen Rehabilitierung (die jedoch lediglich seiner Ermordung im Jahr 520 voranging: Malal. XVII 8); s. etwa Zach. HE VIII 2. Bestätigt wird die Ernennung u.a. in Jord. Rom. 361 und Evagr. HE IV 3. Ziel der Maßnahmen, die schließlich in der Ernennung zum Konsul für das Jahr 520 gipfelten (Malal. XVII 8), war offensichtlich eine enge Bindung dieses bedrohlichen Akteurs an den neuen Kaiser: Begass 2018, 259f.; vgl. Evagr. HE IV 3, der die Rückberufung mit der Furcht Justins vor Vitalians Einfluss und Verbindungen begründet; der Kaiser habe demnach dem ehemaligen Usurpator nur durch falsche Freundschaft beikommen zu können geglaubt. Offensichtliches Misstrauen insbesondere auf Vitalians Seite führte dazu, dass das Übereinkommen durch gegenseitige Eide abgesichert wurde, die Vitalian allerdings nicht viel nützen sollten (vgl. Vasiliev 1950, 109f. und Greatrex 2007, 105f.); s. dazu auch die Parallelüberlieferung zu Malalas in EI (170,23–26), die (mit kritisch anmutendem Unterton) bestätigt, dass der wie selbstverständlich wieder im Palast verkehrende Vitalian von Justin mit "Bitten" und "Eiden" empfangen worden sei (μεταχειρισθεὶς ὑπὸ Ἰουστίνου βασιλέως μετὰ παρακλήσεως καὶ ὅρκων). Diese Version, die durch Ps.-Zach. HE VIII 2 bestätigt wird, betrachtet Greatrex 2007, 106 als sehr negativ gegenüber Justin – im Gegensatz zur O-Version, die dementsprechend ein expurgiertes offizielleres Narrativ widerspiegeln soll. Die ebenfalls abweichende Version von Theophanes überzeichnet die Annäherung von Justin und Vitalian aus religiösen Gründen noch deutlicher (Greatrex 2007 ibid. mit Mango/Scott 1997 251 Anm. 4 und 7; dazu XVII 8, 4 ). (Jonas Borsch mit Olivier Gengler)
Die Rückberufung Vitalians aus seinem Exil in Anchialos am Schwarzen Meer und seine Ernennung zum magister militum prasentalis (XVII 5, 3 ) entsprechen dem zu Beginn von Buch XVII stark präsenten Thema der Machtsicherung, welche Justin mit einer Doppelstrategie aus Abschreckung (Hinrichtung des Amantios: XVII 2) und Milde (Rehabilitierung von Exilierten: XVII 3) bestritt: Dazu Vasiliev 1950, 108–114. Der Fall Vitalians sticht dabei angesichts der besonderen Vorgeschichte des Generals heraus: Sein chalkedonisches Bekenntnis näherte ihn Justin (und mit ihm Justinian) an (s. dazu Stein 1949, 223–225); gleichzeitig war er als ehemaliger Usurpator für den Kaiser potentiell außerordentlich gefährlich. Sein Rückruf bildet den Beginn einer vielfach dokumentierten, raschen Rehabilitierung (die jedoch lediglich seiner Ermordung im Jahr 520 voranging: Malal. XVII 8); s. etwa Zach. HE VIII 2. Bestätigt wird die Ernennung u.a. in Jord. Rom. 361 und Evagr. HE IV 3. Ziel der Maßnahmen, die schließlich in der Ernennung zum Konsul für das Jahr 520 gipfelten (Malal. XVII 8), war offensichtlich eine enge Bindung dieses bedrohlichen Akteurs an den neuen Kaiser: Begass 2018, 259f.; vgl. Evagr. HE IV 3, der die Rückberufung mit der Furcht Justins vor Vitalians Einfluss und Verbindungen begründet; der Kaiser habe demnach dem ehemaligen Usurpator nur durch falsche Freundschaft beikommen zu können geglaubt. Offensichtliches Misstrauen insbesondere auf Vitalians Seite führte dazu, dass das Übereinkommen durch gegenseitige Eide abgesichert wurde, die Vitalian allerdings nicht viel nützen sollten (vgl. Vasiliev 1950, 109f. und Greatrex 2007, 105f.); s. dazu auch die Parallelüberlieferung zu Malalas in EI (170,23–26), die (mit kritisch anmutendem Unterton) bestätigt, dass der wie selbstverständlich wieder im Palast verkehrende Vitalian von Justin mit "Bitten" und "Eiden" empfangen worden sei (μεταχειρισθεὶς ὑπὸ Ἰουστίνου βασιλέως μετὰ παρακλήσεως καὶ ὅρκων). Diese Version, die durch Ps.-Zach. HE VIII 2 bestätigt wird, betrachtet Greatrex 2007, 106 als sehr negativ gegenüber Justin – im Gegensatz zur O-Version, die dementsprechend ein expurgiertes offizielleres Narrativ widerspiegeln soll. Die ebenfalls abweichende Version von Theophanes überzeichnet die Annäherung von Justin und Vitalian aus religiösen Gründen noch deutlicher (Greatrex 2007 ibid. mit Mango/Scott 1997 251 Anm. 4 und 7; dazu XVII 8, 4 ). (Jonas Borsch mit Olivier Gengler)
1/10 τυραννήσαντα: τυραννέω (Lampe s.v. 9) bezeichnet hier wie häufig in der spätantiken Literatur das Rebellieren: VI 3, 22 . Die Person oder die Macht, gegen welche eine Rebellion gerichtet ist, steht, falls genannt, im Akk. (vgl. z.B. VIII 25,5: Ἀρσάκους τοῦ Πάρθου τοῦ τυραννήσαντος αὐτὸν) oder im Gen. mit der Präp. κατά (XVIII 57,2: τυραννήσαντος τοῦ ἰδίου ἐξαδέλφου κατ’ αὐτοῦ). Die hiesige Verwendung des Dativs ist ungewöhnlich.
Vitalian ist in allen Abschnitten der Chronographia, in denen er erwähnt wird, als Rebell dargestellt. Vgl. XVI 16,1: ἐτυράννησε Βιταλιανὸς; XVI 16,64: Βιταλιανοῦ τοῦ τυράννου; XVII 8,4: Βιταλιανὸς... ὡς τυραννήσας Ῥωμαίους. S. dazu Greatrex 2007, 105f. (Olivier Gengler)
Vitalian ist in allen Abschnitten der Chronographia, in denen er erwähnt wird, als Rebell dargestellt. Vgl. XVI 16,1: ἐτυράννησε Βιταλιανὸς; XVI 16,64: Βιταλιανοῦ τοῦ τυράννου; XVII 8,4: Βιταλιανὸς... ὡς τυραννήσας Ῥωμαίους. S. dazu Greatrex 2007, 105f. (Olivier Gengler)
3/2 στρατηλάτην πραισέντου: _magister militum praesentalis_ (MMPr). Seit der Reform von Theodosius I. gab es im Oströmischen Reich zwei MMPr, die sich den Oberbefehl über die in der Reichshauptstadt stationierten Truppen teilten (Boak 1915, 124; vgl. Procop. Bell. I 8,2: τῶν ἐν Βυζαντίῳ στρατιωτῶν und XVII 5, 3 ). Laut der Notitia dignitatum Or. V–VI hatte jeder MMPr 12 vexillationes, 6 Legionen und 18 auxillia unter seinem Kommando. Manche Truppen, die dem MMPr unterstanden, waren jedoch in den Provinzen stationiert und wurden (zumindest unter Justinian) teilweise anderen Offizieren zugeordnet ([_Nov._] Edikt 13,2).
Es sieht außerdem so aus, dass in der 2. Hälfte des 5. Jhs. zumindest einer der MMPr – den Malalas στρατηλάτης τοῦ μεγάλου πραισέντου nennt – größere Kontingente befehligte (XV 3, 6 ). Es ist nicht bekannt, ob Vitalian dieses Kommando innehatte bzw. ob es nach Anastasios' Zeit beibehalten wurde. Kein Zweifel besteht in jedem Fall daran, dass Vitalian als MMPr eines der wichtigsten Ämter des Staates bekleidete (Stein 1949, 224–225). (Olivier Gengler)
Es sieht außerdem so aus, dass in der 2. Hälfte des 5. Jhs. zumindest einer der MMPr – den Malalas στρατηλάτης τοῦ μεγάλου πραισέντου nennt – größere Kontingente befehligte (XV 3, 6 ). Es ist nicht bekannt, ob Vitalian dieses Kommando innehatte bzw. ob es nach Anastasios' Zeit beibehalten wurde. Kein Zweifel besteht in jedem Fall daran, dass Vitalian als MMPr eines der wichtigsten Ämter des Staates bekleidete (Stein 1949, 224–225). (Olivier Gengler)
3/3 πραισέντου: Gr. Wort mit einem auf dem lat. praesens basierten Stamm. Neben dem viel selteneren Adj. πραισεντάλιος (Lehnwort aus dem lat. praesentalis) ist der Gen. πραισέντου die übliche Bezeichnung des Kommandobereiches von den (im Ostreich seit einer Reform Theodosius' I.) zwei Generälen, die nicht für die Armee einer Provinz sondern für die direkt an den Kaiserhof gebundenen Truppen verantwortlich waren (XVII 5, 3 ). Unter πραισέντον sind also diese Truppen (die praesentales, d.h. Truppen, die in praesenti bei dem Kaisers standen: TLL s.v. praesentalis) zu verstehen (Avotins 1992, 175; LSJ Suppl. s.v. πραισέντον; es sind aber keine ‚bodyguards‘ wie James 1990 223 nach Lampe s.v. πραισέντον behauptet; dazu XVIII 10, 5f. und XVI 9, 9 ). Der Ausdruck gehört der offiziellen administrativen Sprache an: vgl. Nov. 22 (536) 186,43–187,7, wo drei στρατηγοί τοῦ θείου πραισέντου genannt werden (der dritte MMPr wurde wahrscheinlich durch Justinian eingeführt: Stein 1949, 431 und Anm. 4). Eine ähnliche Umschreibung für das Amt des Vitalianos bietet Evagr., HE IV 3 (154,14–15 Bidez-Parmentier): στρατηγὸν αὐτὸν ἑνὸς τῶν καλουμένων πραισέντων. (Olivier Gengler)
Parallelüberlieferung
Theoph. 166,6–8; Cedr. 638,3–5
Vgl. EI 170,23–26: καὶ εὐθέως εἰσῆλθεν ἐν Κωνσταντινουπόλει Βιταλιανός, καὶ ἐγένετο στρατηλάτης καὶ ἀπὸ ὑπάτων τὴν ἀξίαν καὶ ὕπατος ὀρδηνάριος μεταχειρισθεὶς ὑπὸ Ἰουστίνου βασιλέως μετὰ παρακλήσεως καὶ ὅρκων. Die Parallelstelle in den EI weicht wieder stark vom O-Text ab: s. dazu den Kommentar zu XVII 1.
Literatur
Avotins (1992): Avotins, Ivars: On the Greek of the Novels of Justinian. A Supplement to Liddell-Scott-Jones together with Observations on the Influence of Latin on Legal Greek, Hildesheim, 1992.
Begass (2018): Begass, Christoph: Die Senatsaristokratie des oströmischen Reiches, ca. 457-518. Prosopographische und sozialgeschichtliche Untersuchungen, München, 2018.
Boak (1915): Boak, A.E.R.: The Roman Magistri in the Civil and Military Service of the Empire, Harvard Studies in Classical Philology, 1915, 73 164.
Croke (1995): Croke, Brian: The Chronicle of Marcellinus, Sydney, 1995.
Greatrex (2007): Greatrex, Geoffrey B.: The early years of Justin I in the sources, Electrum, 2007, 99–113.
James (1990): James, Alan: The language of Malalas, 1: General survey, Jeffreys, Elisabeth/Croke, Brian/Scott, Roger, Studies in John Malalas, 6, Sydney 1990, 217–224.
Mango/Scott (1997): Mango, Cyril and Scott, Roger: The Chronicle of Theophanes Confessor. Byzantine and Near Eastern History AD 284–813, Oxford, 1997.
Stein (1949): Stein, Ernest: Histoire du Bas-Empire, Tome II. De la disparition de l’Empire d’Occident à la mort de Justinien (476–565), Paris/Bruxelles/Amsterdam, 1949.
Vasiliev (1950): Vasiliev, Alexander A.: Justin the First. An Introduction to the Epoch of Justinian the Great (Dumbarton Oaks Studies l), Cambridge, MA, 1950.