4/5 ὡς τυραννήσας: Die Ursache für die Beseitigung Vitalians ist in Quellen wie Forschung strittig. Während die in
EI erhaltene Version sich über die Gründe ausschweigt, führt O recht knapp die früheren Verfehlungen des chalkedonischen Feldherrn an. In der übrigen Überlieferung kursieren weitere, davon abweichende und auch untereinander divergierende Erklärungen. Zur Gesinnungslage Justins äußert sich am ausführlichsten Evagrios (IV 3): Er erklärt Justins Entgegenkommen gegenüber Vitalian in den vorangegangenen Monaten zur arglistigen Täuschung (
XVII 5, 1), die schließlich von einem Meuchelmord gefolgt worden sei. Angesichts von Vitalians "schlimmen Taten gegen das römische Reich" (τῶν παρ' αὐτοῦ κατὰ τῆς Ῥωμαίων ἀρχῆς παροινηθέντων) wird dieser Mord gleichwohl begrüßt. Procop.
HA VI 27 nimmt Justinian persönlich in Haftung (vgl. auch Zon. XIV 5,15) und erklärt die Tat ohne weitere Erläuterungen mit einem plötzlichen Stimmungsumschwung. Theophanes und weitere Autoren schieben die Schuld hingegen den "Byzantinern" zu (Theoph. 166,19: ἐδολοφονήθη ὑπὸ τῶν Βυζαντίων), was offensichtlich dem Zweck dient, den Kaiser und seinen Neffen Justinian von der Verantwortung freizusprechen:
Mango/Scott 1997, 253, Anm. 1. Als nähere Begründung werden – ähnlich wie in O und bei Evagrios – Vitalians Untaten in der Regierungszeit des Anastasios genannt. Anders äußert sich schließlich Joh. Nik. XC 11, wo es heißt, Vitalian habe eine Rebellion gegen Justin geplant – wie bereits zuvor gegen Anastasios.
Croke 2007, 34f. hält diese Erklärung für die glaubhafteste, doch ist die Darstellung Vitalians bei Johannes von Nikiu eindeutig feindselig und in früheren Schriften fehlen alle entsprechenden Hinweise, vgl.
Begass 2018, 260. Einen direkten Zusammenhang zwischen dem Mord und den in
EI geschilderten Zirkusspielen sieht
Vasiliev 1950, 110–113. In den
Excerpta ist von feiernden Parteienanhängern in der Stadt die Rede (
XVII 8, 1ff.). Vasiliev vermutet die Ursache für diesen Enthusiasmus in dem Umstand, dass mit Vitalian ein Chalkedonier zum Konsul geworden war. Das wiederum habe Justin und Justinian, die den ehemaligen Usurpator ohnehin fürchteten, weiter beunruhigt und so den Anstoß für dessen Ermordung gegeben. Diese These beruht allerdings auf der Prämisse, dass die Ermordung tatsächlich während den oder unmittelbar im Anschluss an die Spiele geschah und beide Berichte nicht erst durch Überlieferungsfehler zusammengebracht worden sind: Zu dieser Problematik
XVII 8, 1ff.. Auch ohne konkreten beunruhigenden Anlass ist jedenfalls davon auszugehen, dass Vitalian für Justin und Justinian eine Bedrohung darstellte, die aus dem Weg zu schaffen im Interesse des Kaisers bzw. seines Neffen lag:
Meier 2004a, 186f.;
Greatrex 2007, 105f. Bei der in O angegebenen und bei Evagrios, Theophanes und anderen wiederholten Ursache – Bestrafung früherer Missetaten – könnte es sich um das offizielle Verdikt handeln, das über die Ursachen für Vitalians Tod kursierte (vgl.
Greatrex 2007, 106). In diesem Sinne kann man auch die hiesige Formulierung verstehen: ὡς τυραννήσας. Vgl. auch
Alpi 2006, 231, für den Malalas (bzw. der Autor von O) eine "position strictement légitimiste de défense du pouvoir impérial et de la personne du monarque" einnimmt. Die theologische Position des Autors spielt dabei offensichtlich keine Rolle – auf eine dezidierte Stellungnahme wird verzichtet, obwohl mit Vitalian ein prominenter Fürsprecher Chalkedons beseitigt worden war. Dieser Verzicht spricht gegen ein stärkeres theologisches Engagement des Autors.
Mango, Cyril and Scott, Roger: The Chronicle of Theophanes Confessor. Byzantine and Near Eastern History AD 284–813, Oxford 1997.
Croke, Brian: Justinian under Justin: reconfiguring a reign, Byzantinische Zeitschrift, 1, 2007, 13–56.
Begass, Christoph: Die Senatsaristokratie des oströmischen Reiches, ca. 457-518. Prosopographische und sozialgeschichtliche Untersuchungen, München 2018.
Vasiliev, Alexander A.: Justin the First. An Introduction to the Epoch of Justinian the Great (Dumbarton Oaks Studies l), Cambridge, MA 1950.
Meier, Mischa: Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr., Göttingen 2004.
Greatrex, Geoffrey B.: The early years of Justin I in the sources, Electrum, 2007, 99–113.
Greatrex, Geoffrey B.: The early years of Justin I in the sources, Electrum, 2007, 99–113.
Alpi, Frédéric Nicolas: L’orientation christologique des livres XVI et XVII de Malalas. Les règnes d’Anastase (491–518) et de Justin Ier (518–527), Agusta-Boularot, S.; Beaucamp, J.; Bernardi, A.-M.; Caire, E., Recherches sur la Chronique de Jean Malalas II, Paris 2006, 227–242.
(Jonas Borsch)