Malalas 17.8 1–5 = 48–52 (Thurn)

Inhalt

Mal. XVII 8 informiert über die Beseitigung des Feldherrn Vitalian, der zu Beginn der Regierungszeit Justins noch äußerst zuvorkommend behandelt und nicht lange vor seinem Tod sogar zum Konsul ernannt worden war. Sein Ende wird im Palast lokalisiert und zeitlich mit der Abhaltung von Zirkusspielen in Verbindung gebracht, die auch in der Parallelüberlieferung der Excerpta de Insidiis erwähnt werden. Dort ist u.a. zu erfahren, dass es im Verlauf dieser Spiele zu Ausschreitungen gekommen war. (Jonas Borsch)

Philologisch-Historischer Kommentar
Parallelüberlieferung
Literatur

1 (48)
δὲ αὐτὸς Ἰουστῖνος βασιλεὺς ἐδισιγνάτευσεν ὕπατον στρατη-
 
λάτην πραισέντου Βιταλιανόν, ὅστις προῆλθεν ὕπατος Ῥωμαίων· καὶ ἐν
 
τῷ ὑπατεύειν αὐτὸν μετὰ τὴν πρώτην αὐτοῦ μάππαν ἐσφάγη ὁ αὐτὸς
 
Βιταλιανὸς ἐν τῷ παλατίῳ ὡς τυραννήσας Ῥωμαίους καὶ πολλὰς πόλεις
5 (52)
καὶ χώρας τῆς Ῥωμανίας πραιδεύσας.
Philologisch-Historischer Kommentar
1/1 Ὁ δὲ αὐτὸς Ἰουστῖνος βασιλεὺς: Die Nennung des Kaisers markiert hier eindeutig einen neuen Abschnitt. Eine explizite Datierung, wie sonst üblicherweise an den Beginn von neuen Sinneinheiten gestellt, bleibt zunächst aus. Für die umständliche und redundante Einführung (der Kaiser designiert Vitalian zum Konsul; Vitalian tritt als Konsul an; "als/indem er Konsul war", gibt er Spiele) besteht inhaltlich wenig Notwendigkeit, was man als Indiz für die These auffassen könnte, dass der Verfasser von O hier besonders stark gekürzt und dabei getrennte Ereignisse zusammengeworfen hat (zur Diskussion XVII 8, 1ff.). Die Wiederholung des Konsulates bezieht sich allerdings jeweils auf unterschiedliche Ereignisse (Ernennung, Antritt, Spiele), die inhaltlich durch die Person Vitalians in Beziehung stehen, aber zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattfanden: In diesem Sinne könnte es sich beim Hinweis auf Ernennung und Antritt auf einen vom Zeitpunkt des Wagenrennens (bzw. Vitalians Ermordung) aus betrachteten Rückverweis handeln. Gleichzeitig tritt durch die Nennung des Konsulats hier der Kaiser als Handelnder an den Beginn der Ereigniskette; nicht zuletzt wird die Aufmerksamkeit dezent auf den Umstand gelenkt, dass Vitalian erst zum Konsul ernannt, noch im selben Jahr jedoch getötet wurde. (Jonas Borsch)
1/6 ἐδισιγνάτευσεν ὕπατον: Das Verb δισιγνατεύω ist nur in der O-Fassung der Chronographia belegt (für die Form δισιγνιτεύω: VII 9, 31f.); es ist von δισίγνατος bzw. lat. designatus abgeleitet (und dadurch nur indirekt mit designo verbundet, contra Lampe s.v., James 1990, 223, LBG s.v. usw.). Das Adj. δισίγνατος ist bei Phot. Bibl. (Cod. 80) 59a36 Bekker belegt; vgl. auch δεσιγνάτος in ACO II 1 3, S. 120,11; S. 121,16; S. 124,22. Die Theophilos zugeschriebene Paraphrase der Institutiones beinhaltet die Mischform designaτεύεσθαι (II 20,25 S. 222,6 Ferrini). Genauso wie das Adjektiv δισίγνατος/δεσιγνάτος ist das Verb nur mit dem Subst. ὕπατος belegt, mit der Bedeutung ‚als consul designieren‘ (Lampe und LBG s.v. δισιγνατεύω sind diesbezüglich zu unspezifisch).

Zur designatio eines Konsuls in der Spätantike s. Bagnall/Cameron/Schwartz/Worp 1987, 18–20. (Olivier Gengler)
1/8 στρατηλάτην πραισέντου: Zum Titel: XVII 5, 3 (Olivier Gengler)
1f./6 ἐδισιγνάτευσεν ὕπατον στρατηλάτην πραισέντου Βιταλιανόν: Zu Vitalian (PLRE II (Vitalianus 2), 1171–1176), der bereits unter Anastasios eine eigenständige, für den Kaiser gefährliche Politik betrieben hatte, XVI 16, 1; zu seiner zunächst ehrenvollen Behandlung durch Justin nach dessen Amtsantritt XVII 5, 1. Die Nennung des Konsuls bedeutet hier auch eine implizite Datierung in das Jahr 520 (vgl. Bagnall/Cameron/Schwartz/Worp 1987, 574f.). (Jonas Borsch)
1ff./1 Ὁ δὲ αὐτὸς Ἰουστῖνος βασιλεὺς ... πραιδεύσας: Im Vergleich mit der von Thurn 2000, 339 edierten, knappen Darstellung der Begebenheit in O bieten die Excerpta de Insidiis eine längere, nur in den Kerndetails übereinstimmende Version der in der hiesigen Passage erwähnten Ereignisse. Die Excerpta lassen sich umfassend über das Stattfinden von Zirkusspielen aus, bei denen es zunächst zu Unruhen gekommen sei, bevor dann jedoch – infolge einer Intervention von Soldaten – Eintracht einkehrte. Der nächste Tag beginnt abermals mit Spielen und mündet darin, dass die Parteienanhänger in ihren Farben feiernd durch die Straßen ziehen, wobei einzelne Personen (offenbar gesellschaftliche Außenseiter) ins Meer geschmissen werden. Hieran schließt sich unmittelbar der Bericht über den Tod Vitalians im Palast an. Jeffreys/Jeffreys/Scott 1986, 232 ad loc. betonen den abrupten Übergang (vgl. schon Vasiliev 1950, 111) sowie die Diskrepanz zu O; sie vermuten, dass in O zwei Ereignisse zusammengelegt worden sind (Spiele und Ermordung Vitalians), die inhaltlich ursprünglich nicht miteinander in Verbindung standen. Auch wenn in keinem der beiden Texte ein Zusammenhang explizit gemacht wird, berichten jedoch beide über Zirkusspiele und den Tod Vitalians übergangslos nacheinander (bzw., in O, in einem Satz). Die starken Unterschiede zwischen EI und O, die sich auch hier wiederholen (vgl. XVII 1 und XVII 5), werfen insgesamt bezüglich der Zugehörigkeit zur selben Quellentradition große Fragezeichen auf. (Jonas Borsch)
2/9 ἐν τῷ ὑπατεύειν αὐτὸν: "Als/indem er Konsul war": Dieser Nebensatz lässt sich wiederum als Datierungsformel verstehen, verweist aber auch auf das Kommende, denn Vitalian eröffnet im Folgenden ein Pferderennen im Hippodrom in seiner Funktion als Konsul. Eine präzisere Datierung des geschilderten Vorfalles gibt Marc. Com. ad ann. 520, wo der Tod Vitalians für den siebten Monat des Jahres, also Juli, vermerkt wird. (Jonas Borsch)
3/4 μετὰ τὴν πρώτην αὐτοῦ μάππαν: Bei der mappa handelt es sich um ein Tuch, das bereits in der Frühen Kaiserzeit als Signal bei den Veranstaltungen im Hippodrom Verwendung fand (vgl. bspw. Suet. Nero 22). Es wurde üblicherweise durch die Konsuln geworfen, um das Zeichen für den Start der Spiele zu geben; im Verlauf des 6. Jahrhunderts ging dieses Recht fest an den Kaiser über. Die mappa ist ein häufiges Attribut der Konsuldarstellungen auf Diptychen: Vgl. ODB 2 (1991), 1294, s.v. Mappa (A. Kazhdan) und Puk 2014, Taf. 11, Abb. 6 b); s. für das Symbol in der kaiserlichen Münzprägung auch Restle 1964, 143 (Maurikios). Der symbolträchtige Akt des Abhaltens von Spielen bot dabei grundsätzlich auch Konfliktpotential. So hatte im Jahr 354 der Caesar Gallus den Ärger Constantius' II. geweckt, als er auf eigene Initiative Spiele im Hippodrom abhielt; wenige Monate später wurde er auf Veranlassung des Kaisers ermordet: Puk 2014, 181. (Jonas Borsch)
3/8 μάππαν: A. Kazhdan (ODB 2 [1991], 1294, s.v. Mappa) sieht an dieser Stelle einen Beleg für die Übertragung des Begriffes μάππα auf die Spiele bzw. Rennen im Ganzen. Der Zusammenhang scheint hier in der Tat für den Autor nicht erklärungsbedürftig zu sein. Gleichzeitig handelt es sich jedoch nicht um eine synonyme Verwendung im engeren Sinne: Die Formulierung lässt sich wörtlich verstehen als Hinweis auf das erste durch den Konsul gegebene Signal (dass es um den Start eines Rennens geht, muss sich der informierte Leser also ergänzen). Angesichts der Probleme, die sich in den ersten Abschnitten mit Blick auf die Parallelüberlieferung ergeben (XVII 8, 1ff.), ist zudem fraglich, inwiefern die gekürzte Textfassung von O hier als Zeugnis für die Sprache des 6. Jahrhunderts gewertet werden kann. (Jonas Borsch)
3/9 ἐσφάγη ὁ αὐτὸς Βιταλιανὸς ἐν τῷ παλατίῳ ὡς τυραννήσας: Die Ähnlichkeit mit XVII 2, wo andere angebliche Rebellen im Palast hingerichtet werden, ist auffällig. Es handelt sich offensichtlich um eine standardisierte Phraseologie, die vielleicht die Sichtweise der regierenden Kreise widerspiegelt: XVII 8, 4. (Olivier Gengler)
4/5 ὡς τυραννήσας: Die Ursache für die Beseitigung Vitalians ist in Quellen wie Forschung strittig. Während die in EI erhaltene Version sich über die Gründe ausschweigt, führt O recht knapp die früheren Verfehlungen des chalkedonischen Feldherrn an. In der übrigen Überlieferung kursieren weitere, davon abweichende und auch untereinander divergierende Erklärungen. Zur Gesinnungslage Justins äußert sich am ausführlichsten Evagrios (IV 3): Er erklärt Justins Entgegenkommen gegenüber Vitalian in den vorangegangenen Monaten zur arglistigen Täuschung (XVII 5, 1), die schließlich von einem Meuchelmord gefolgt worden sei. Angesichts von Vitalians "schlimmen Taten gegen das römische Reich" (τῶν παρ' αὐτοῦ κατὰ τῆς Ῥωμαίων ἀρχῆς παροινηθέντων) wird dieser Mord gleichwohl begrüßt. Procop. HA VI 27 nimmt Justinian persönlich in Haftung (vgl. auch Zon. XIV 5,15) und erklärt die Tat ohne weitere Erläuterungen mit einem plötzlichen Stimmungsumschwung. Theophanes und weitere Autoren schieben die Schuld hingegen den "Byzantinern" zu (Theoph. 166,19: ἐδολοφονήθη ὑπὸ τῶν Βυζαντίων), was offensichtlich dem Zweck dient, den Kaiser und seinen Neffen Justinian von der Verantwortung freizusprechen: Mango/Scott 1997, 253, Anm. 1. Als nähere Begründung werden – ähnlich wie in O und bei Evagrios – Vitalians Untaten in der Regierungszeit des Anastasios genannt. Anders äußert sich schließlich Joh. Nik. XC 11, wo es heißt, Vitalian habe eine Rebellion gegen Justin geplant – wie bereits zuvor gegen Anastasios. Croke 2007, 34f. hält diese Erklärung für die glaubhafteste, doch ist die Darstellung Vitalians bei Johannes von Nikiu eindeutig feindselig und in früheren Schriften fehlen alle entsprechenden Hinweise, vgl. Begass 2018, 260. Einen direkten Zusammenhang zwischen dem Mord und den in EI geschilderten Zirkusspielen sieht Vasiliev 1950, 110–113. In den Excerpta ist von feiernden Parteienanhängern in der Stadt die Rede (XVII 8, 1ff.). Vasiliev vermutet die Ursache für diesen Enthusiasmus in dem Umstand, dass mit Vitalian ein Chalkedonier zum Konsul geworden war. Das wiederum habe Justin und Justinian, die den ehemaligen Usurpator ohnehin fürchteten, weiter beunruhigt und so den Anstoß für dessen Ermordung gegeben. Diese These beruht allerdings auf der Prämisse, dass die Ermordung tatsächlich während den oder unmittelbar im Anschluss an die Spiele geschah und beide Berichte nicht erst durch Überlieferungsfehler zusammengebracht worden sind: Zu dieser Problematik XVII 8, 1ff.. Auch ohne konkreten beunruhigenden Anlass ist jedenfalls davon auszugehen, dass Vitalian für Justin und Justinian eine Bedrohung darstellte, die aus dem Weg zu schaffen im Interesse des Kaisers bzw. seines Neffen lag: Meier 2004a, 186f.; Greatrex 2007, 105f. Bei der in O angegebenen und bei Evagrios, Theophanes und anderen wiederholten Ursache – Bestrafung früherer Missetaten – könnte es sich um das offizielle Verdikt handeln, das über die Ursachen für Vitalians Tod kursierte (vgl. Greatrex 2007, 106). In diesem Sinne kann man auch die hiesige Formulierung verstehen: ὡς τυραννήσας. Vgl. auch Alpi 2006, 231, für den Malalas (bzw. der Autor von O) eine "position strictement légitimiste de défense du pouvoir impérial et de la personne du monarque" einnimmt. Die theologische Position des Autors spielt dabei offensichtlich keine Rolle – auf eine dezidierte Stellungnahme wird verzichtet, obwohl mit Vitalian ein prominenter Fürsprecher Chalkedons beseitigt worden war. Dieser Verzicht spricht gegen ein stärkeres theologisches Engagement des Autors. (Jonas Borsch)
4/5 ὡς τυραννήσας: ‚als Usurpator‘ (Thurn/Meier 2009, 426): VI 3, 22. (Olivier Gengler)
5/4 Ῥωμανίας: Über diese vernakuläre Bezeichnung des östlichen römischen Staates: XVI 21, 3. (Olivier Gengler)
5/5 πραιδεύσας: Lehnwort aus dem Lateinischen von praedari bzw. praeda: II 7, 15.

Das Verb wurde schon früher im Zusammenhang mit Vitalians Rebellion verwendet, kehrt hier also gewissermaßen wieder (XVI 16, 18: καὶ ἦλθεν *πραιδεύων* πάλιν πᾶσαν τὴν Θρᾴκην καὶ τὴν Εὐρώπην, ἕως οὗ ἦλθεν ἐν Συκαῖς καὶ ἐπὶ τὸν Ἀνάπλουν πέραν Κωνσταντινουπόλεως βουλόμενος καὶ αὐτὴν Κωνσταντινούπολιν λαβεῖν). (Florian Battistella, Olivier Gengler)
Parallelüberlieferung
Evagr. 4,3 (154,17–20 Bidez/Parmentier); Theoph. 165,6–8; 166,19–21 de Boor; Leo Gramm. 123,4–5 Bekker; Xanth., Hist. eccl., PG 147,220A–221B; Zon. III 146,6,16; Joh. Nik. XC 6–8,11; Zach. Rhet. 8,1; Cram. Anecd. Paris. II 318,23–25. Vgl. Procop. Anecd. VI 27–28; Marc. Com. ad ann. 520; Hist. Imper., 951–953.
Literatur
Alpi (2006): Alpi, Frédéric Nicolas: L’orientation christologique des livres XVI et XVII de Malalas. Les règnes d’Anastase (491–518) et de Justin Ier (518–527), Recherches sur la Chronique de Jean Malalas II, 2006, 227–242.
Bagnall/Cameron/Schwartz/Worp (1987): Bagnall, Roger S./Cameron, Alan/Schwartz, Seth R./Worp, Klaas A.: Consuls of the Later Roman Empire, Atlanta, 1987.
Begass (2018): Begass, Christoph: Die Senatsaristokratie des oströmischen Reiches, ca. 457-518. Prosopographische und sozialgeschichtliche Untersuchungen, München, 2018.
Greatrex (2007): Greatrex, Geoffrey B.: The early years of Justin I in the sources, Electrum, 2007, 99–113.
James (1990): James, Alan: The language of Malalas, 1: General survey, Jeffreys, Elisabeth/Croke, Brian/Scott, Roger, Studies in John Malalas, 6, Sydney 1990, 217–224.
Jeffreys/Jeffreys/Scott (1986): Jeffreys, Elizabeth/Jeffreys, Michael/Scott, Roger: The Chronicle of John Malalas. A Translation, Melbourne, 1986.
Kaldellis (2019): Kaldellis, Anthony: Romanland: Ethnicity and Empire in Byzantium, Cambridge (Mass.), 2019.
Koder (2018): Koder, Johannes: Remarks on linguistic Romanness in Byzantium, Pohl, Walter et a., 71, Berlin 2018, 111 121.
Mango/Scott (1997): Mango, Cyril and Scott, Roger: The Chronicle of Theophanes Confessor. Byzantine and Near Eastern History AD 284–813, Oxford, 1997.
Meier (2004a): Meier, Mischa: Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr., Göttingen, 2004.
Puk (2014): Puk, Alexander: Das römische Spielewesen in der Spätantike, Berlin, 2014.
Restle (1964): Restle, Marcell: Kunst und byzantinische Münzprägung von Justinian I. bis zum Bilderstreit, Athen, 1964.
Thurn (2000): Thurn, Johannes: Ioannis Malalae Chronographia, Berolini et Novi Eboraci, 2000.
Thurn/Meier (2009): Thurn, Johannes/Meier, Mischa: Johannes Malalas Weltchronik., Stuttgart, 2009.
Vasiliev (1950): Vasiliev, Alexander A.: Justin the First. An Introduction to the Epoch of Justinian the Great (Dumbarton Oaks Studies l), Cambridge, MA, 1950.