Malalas 18.95 1–1 = 26–26 (Thurn)

Inhalt

Kapitel XVIII 95 thematisiert eine wohl in Konstantinopel zu lokalisierende Weinknappheit.

Philologisch-Historischer Kommentar
Parallelüberlieferung
Literatur

1 (26)
Ἐν αὐτῷ δὲ τῷ χρόνῳ καὶ σπάνις οἴνου ἐγένετο.
Philologisch-Historischer Kommentar
1/1 Ἐν αὐτῷ δὲ τῷ χρόνῳ: Der relative chronologische Anschluss bezieht sich aller Wahrscheinlichkeit nach (d.h. soweit der im Codex Baroccianus überlieferte Text nicht trügt) auf die Datumsangabe in XVIII 93 (Erdbeben in Kyzikos, September der siebten Indiktion = 543 n. Chr.). Das folgende Kapitel XVIII 96 (Verwirrung um den Beginn der Fastenzeit) wird ohne weitere chronologische Konkretisierung auf November eines unbestimmten Jahres datiert. Im Kontext suggeriert diese Angabe den November 543 als Datum, ist, was die absolute Chronologie betrifft aber gemäß der präzisen Angabe bei Theoph. I 225, 5–10 de Boor womöglich auf Februar 546 n. Chr. zu korrigieren XVIII 96, 1. Das hiesige Ereignis legt Theophanes (I 225, 4–5 de Boor, ähnlich Cedr. 408.1, 5 Tartaglia) ebenfalls in dieses Jahr (= 545/46 n. Chr.). Mango/Scott 1997, 326 Anm. 1 halten diese Angabe auch hier für korrekt, da präziser als die des Malalas (vgl. Stathakopoulos 2004, 297f.; Meier 2004a, 665 mit Anm. 78). Malalas' Einordnung mit αὐτῷ δὲ τῷ χρόνῳ ist allerdings nicht beliebig dehnbar: Zwischen dem September 543 und dem von Theophanes angegebenen Jahr liegen immerhin mindestens zwei Jahre – ein recht langes Intervall für eine Angabe "zur selben Zeit". Malalas' und Theophanes' Daten sind somit tendenziell widersprüchlich, was es eher unwahrscheinlich macht, dass letzterer sein Datum beispielsweise aus einer vollständigeren, mit einem genaueren Datum versehenen Version des ersteren entnommen hat. Dass ein solches Datum (bzw. sein gesamter Eintrag für das Jahr?) von Theophanes aus einer ganz anderen (zusätzlichen?) Quelle entnommen wurde, ist nicht auszuschließen, wird aber auch nicht durch starke Argumente unterstützt (zur Quellenfrage XVIII 95, 1). So lässt sich fragen, ob Theophanes hier nicht schlichtweg verfuhr, wie es häufig für ihn belegt ist, er nämlich mehrere Ereignisse unter einem Jahreseintrag zusammenfasste, die in seiner Vorlage noch getrennt gelistet worden waren – und dabei die Chronologie je nach Bedarf anpasste. Das hieße dann, dass der Angabe der uns vorliegenden Malalas-Version, die wohl auf 543/44 n. Chr. deutet, eher Glauben zu schenken wäre als der des Theophanes. Vgl. auch die getrennte Auflistung von Malalas und Theophanes für 543 respektive 545/46 bei Meier 2004a, 332, Anm. 164. (Jonas Borsch)
1/6 καὶ σπάνις οἴνου ἐγένετο: Engpässe bei der Versorgung mit bestimmten Gütern waren in der (Spät-)antike und insbesondere in Metropolen wie Rom oder Konstantinopel keine Seltenheit. Dazu allgemein VIII 22, 6; XII 33, 10; XVIII 121, 1.

In der Chronographie begegnen "Mangel" und Versorgungsengpässe besonders oft im letzten, auf Konstantinopel konzentrierten Teil von Buch XVIII (vgl. XVIII 121: σπάνις ἄρτου; XVIII 131 = Theoph. 234,20–235,1 de Boor; XVIII 139; XVIII 147 = Theoph. 239, 23–25 de Boor). Hier fallen sie häufig in den Kontext sozialer Unruhen, die dann durch den Kaiser mit harten Maßnahmen beantwortet werden. Die hiesige Stelle mit ihrer äußerst knappen Schilderung bildet in dieser Hinsicht eine Ausnahme.

Der Begriff des "Weinmangels" (σπάνις οἴνου) findet sich nur ein weiteres Mal, nämlich bereits in VII 4, wo über die angebliche Einführung der Wagenrennen in Rom durch Romulus berichtet wird – Hunger und Versorgungsengpässe erscheinen hier als durch die Anhänger der Grünen befürchtete Folge einer Niederlage ihrer (die Demeter/das Land repräsentierenden) Partei. Dabei wird der Wein in einer Reihe mit Grundnahrungsmitteln wie Weizen und Öl genannt (vgl. hierzu Garnsey 1988, 49, demzufolge Weizen, Öl und Wein "the triad of staple foods" der antiken Mittelmeerwelt bildeten). Für den hier diskutierten Abschnitt ist nicht auszuschließen, dass eine frühere Version des Malalas-Textes ebenfalls auf eine Knappheit an Weizen verwies, da sich entsprechendes bei Theoph. I 225, 4 de Boor findet.

Nach Allen 1979, 16; Meier 2004a, 332 hängen die für die 540er Jahre überlieferten Versorgungsschwierigkeiten in Konstantinopel mit dem Ausbruch der Pest 542 n. Chr. (vgl. Malal. XVIII 92) zusammen: Siehe dazu Ps. Dion. 81 Witakowski mit Verweis auf brachliegende Felder und überreife, ungeerntete Reben an den Weinstöcken als Folgen des Zusammenbruchs des öffentlichen Lebens. Zur Verbindung von Epidemien und Versorgungskrisen allgemein Patlagean 1977, 83–85; Stathakopoulos 2004, 163f. Ohne Hinweis auf eine kausale Verbindung äußert sich Procop. Anecd. XXII 17–19 zu Versorgungsschwierigkeiten in Konstantinopel, die in die erste Amtszeit des Petros Barsymes als praefectus praetorio orientis zwischen 543 und 546 fallen (vgl. PLRE IIIB (Petrus 9), 1000f.). (Jonas Borsch)
1/7 σπάνις οἴνου: Beide Stellen der Parallelüberlieferung zur hiesigen Passage (Theoph. 225, 4 de Boor; Cedr. 408.5, 32 Tartaglia) bieten statt σπάνις das in der Spätantike beinahe synonyme, jedoch deutlich seltener belegte Substantiv λεῖψις. λεῖψις ist zum ersten Mal in der Abhandlung Περὶ συντάξεως des Grammatikers Apollonios Dyskolos (2 n. Chr.) bezeugt, und bezeichnet dort das Fehlen des Artikels: Ap. Dysc. GG 1,107,13–16 Uhlig Κατὰ γὰρ τὴν προειρημένην σύνταξιν [i.e. Hom. Od. XXIV 299] ἐπὶ τούτου πάλιν λείπει τὸ ἄρθρον· ... λέγω ἡ λεῖψις μὲν τοῦ ἄρθρου κτλ. Die Übertragung des Begriffes λεῖψις auf das Fehlen von Lebensmitteln o.ä. wurde vermutlich durch die lautliche Ähnlichkeit zum bereits klassischem Wort für Dürre (λιμός) begünstigt, als der Diphthong ει und der Vokal ι bereits identisch ausgesprochen wurden: Auf charakteristische Weise stellten die kaiserzeitlichen Grammatiker zwischen den zwei Termini sogar eine etymologische Verwandtschaft fest und leiteten den einen vom anderen ab: λιμός: διὰ τοῦ ι γράφεται. καὶ ὤφειλε διὰ τῆς ει διφθόγγου γράφεσθαι, ἐπειδὴ παρὰ τὸ λείπω ἐστίν· ὁ γὰρ λιμός λεῖψίς ἐστι τῶν ἐπιτηδείων (Hdn. GG 3,3, 545, 21–23 Lentz, aus der Abhandlung Περὶ ὀρθογραφίας; vgl. bereits Tryph. fr. 22 von Velsen). Auch λεῖψις findet sich einmal mit derselben Bedeutung von σπάνις in der Malalas-Chronik: Malal. XVI 15 διὰ λεῖψιν ἄρτου καὶ ἐλαίου.

Die Tatsache, dass an der hiesigen Passage die O-Version der Malalas-Chronik σπάνις bietet, die Theophanes-Tradition hingegen λεῖψις, scheint auf eine einfache und wohl zufällige terminologische Varianz zurückzuführen zu sein; sie reicht nicht aus, um Rochows Vermutung zu erhärten, Malalas sei an dieser Stelle nicht die direkte Vorlage des Theophanes gewesen (siehe Rochow 1983, 469). Zum Verhältnis zwischen Malalas und Theophanes hier XVIII 95, 1. (Laura Carrara)
Parallelüberlieferung
Theoph. 225, 4–5; Cedr. 408.5, 32–33 Tartaglia
Literatur
Allen (1979): Allen, P.: The "Justinianic" Plague, Byzantion, 1979, 5–20.
Garnsey (1988): Garnsey, P.: Famine and Food-Supply in the Graeco-Roman World, 1988.
Mango/Scott (1997): Mango, Cyril and Scott, Roger: The Chronicle of Theophanes Confessor. Byzantine and Near Eastern History AD 284–813, Oxford, 1997.
Meier (2004a): Meier, Mischa: Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr., Göttingen, 2004.
Patlagean (1977): Patlagean, E.: Pauvreté économique et pauvreté sociale à Byzance 4e – 7e siècles, Paris/Den Haag, 1977.
Rochow (1983): Rochow, Ilse: Malalas bei Theophanes, Klio, 1983, 459–474.
Stathakopoulos (2004): Stathakopoulos, D. Ch.: Famine and Pestilence in the Late Roman and Early Byzantine Empire, Aldershot/Burlington, 2004.