Malalas 18.92 1–8 = 12–19 (Thurn)

Inhalt

Kapitel 92 thematisiert die Ausbreitung der so genannten "justinianischen Pest" nach Konstantinopel und ihr dortiges Wüten. Malalas verweist in diesem Zusammenhang zwei Mal auf den Charakter des Geschehens als gottgesandte Prüfung. Verschiedene Details zu den Schwierigkeiten, die Toten zu bestatten, stehen im Mittelpunkt des kurzen Berichts. Sie korrespondieren inhaltlich (und wohl auch in der moralischen Auslegung des Geschehens) im Wesentlichen mit den längeren Berichten über die Seuche bei Prokop und Johannes von Ephesos. Eine Beschreibung der Krankheit selbst oder explizite Ausführungen zu deren Ursachen, wie sie sich etwa bei Prokop finden, fehlen hier.

Philologisch-Historischer Kommentar
Parallelüberlieferung
Literatur

1 (12)
Ἰδὼν δὲ κύριος ὁ θεός, ὅτι ἐπληθύνθησαν αἱ ἀνομίαι τῶν ἀν-
 
θρώπων, ἐπήγαγε πτῶσιν ἀνθρώπων ἐπὶ τῆς γῆς εἰς ἐξάλειψιν ἐν πάσαις
 
ταῖς πόλεσι καὶ ἐν ταῖς χώραις. ἐπεκράτησεν γὰρ ἡ θνῆσις ἐπὶ χρόνον,
 
ὥστε μὴ αὐταρκεῖν τοὺς θάπτοντας. τινὲς γὰρ καὶ ἐκ τῶν ἰδίων οἴκων ἐν
5 (16)
ξυλίνοις κραβάτοις ἐξέφερον, καὶ οὐδὲ οὕτως ἐξήρκουν. ἔμενον γὰρ καί
 
τινα τῶν σκηνωμάτων ἐπὶ ἡμέρας ἄταφα· τινὲς γὰρ καὶ τῶν ἰδίων προσ-
 
γενῶν τὴν ταφὴν οὐκ ἔβλεπον. ἐπεκράτησεν δὲ ἡ εὐσπλαγχνία τοῦ θεοῦ
 
ἐν Βυζαντίῳ ἐπὶ μῆνας δύο.
Philologisch-Historischer Kommentar
1ff./1 Ἰδὼν ... χώραις: Die Einleitung dieses (vom vorangegangenen Kapitel inhaltlich zweifelsohne zu trennenden) Abschnittes fällt deutlich aus dem üblichen Schema. Eine chronologische Formel fehlt ganz (die Ausbreitung der Epidemie nach Konstantinopel kann jedoch durch andere Quellen spätestens auf das Frühjahr 542, wahrscheinlich bereits auf Winter 541/42 datiert werden: Meier 2004a, 326f. mit Anm. 117 contra Kislinger/Stathakopoulos 1999, 90). Stattdessen setzt die Passage mit einem direkten Verweis auf das göttliche Wirken ein: "Als nun Gott der Herr aber sehen musste, dass die Missetaten der Menschen Überhand nahmen, führte er ein Massensterben auf der Erde herbei, so dass in allen Städten und Ländern Menschenleben ausgelöscht wurden." (Übers. Thurn/Meier 2009, 505). Diese Passage scheint sich in dieselbe Kategorie einzufügen wie etwa die regelmäßige Verwendung des Begriffes θεομηνία zur Umschreibung von Erdbeben (VII 18, 3); der Kausalzusammenhang zwischen Gotteszorn und Katastrophe, den diese Begriffsverwendung insinuiert, wird bei Malalas zuweilen auch durch andere Formulierungen verdeutlicht (vgl. XVII 16, Z.6f.). Gott kann jedoch auch schützen und verschonen (vgl. XVII 16, Z.66f.; XVIII 28, Z.5f.; XVIII 35, Z.24; XVIII 112, Z.13f.; XVIII 141, Z.10f.). Im hiesigen Zusammenhang bleibt ein expliziter Verweis auf Gottes Zorn zwar aus (was zur allgemein veränderten Begriffsverwendung im letzten Drittel von Buch XVIII passt: XVIII 40, 1), doch ist die Passage schon insofern bemerkenswert, als Gott persönlich als unmittelbarer Träger der Haupthandlung (Auftreten der Epidemie) entgegentritt. Eine Wahrnehmung des "großen Sterbens" als beispiellose und nicht rational zu erfassende Katastrophe, die nur durch unmittelbares Eingreifen Gottes erklärt werden kann, bezeugen auch die bekannten Berichte des Prokop (BP II 22–23) und des Johannes von Ephesos (= Ps. Dion. 74–98; Mich. Syr. 9,28).
1ff./1 Ἰδὼν… χώραις: Die ganze Episode weicht in ihrer Gestaltung von anderen, sprachlich und strukturell gleichförmigen Katastrophenberichten bei Malalas ab. Auffällige Besonderheiten sind die Erwähnung des Blickes, den Gott auf die Menschheit richtet – ganz am Anfang des Berichtes – sowie die Verwendung von Ausdrücken, die anscheinend aus einem biblischen Hintergrund stammen: zuerst der Ausdruck αἱ ἀνομίαι ἐπληθύνθησαν, „die Missetaten nahmen Überhand“ (vgl. LXX Esdr. ii, 9.6 oder Od. 12.9 in der Form ἐπλήθυναν αἱ ἀνομίαι μου; siehe auch Mt. 24.12, διὰ τὸ πληθυνθῆναι τὴν ἀνομίαν ψυγήσεται ἡ ἀγάπη τῶν πολλῶν), der relativ oft von den Kirchenvätern (z.B. von Gregor von Nyssa, Basilius von Caesarea, Johannes Chrysostomos) benutzt wird, aber nur dieses Mal in Malalas’ Chronik vorkommt. Relevant ist auch die besondere Wendung ἐπήγαγε πτῶσιν ἀνθρώπων ἐπὶ τῆς γῆς εἰς ἐξάλειψιν („er führte ein Massensterben auf der Erde herbei, so daß in allen Städten und Ländern Menschenleben ausgelöscht wurden“ in der Übersetzung von Thurn/Meier 2009, 505), wo die Klausel εἰς ἐξάλειψιν an LXX Ezek. 9,6 erinnert (XVIII 92, 2). Die Änderung der üblichen anfänglichen Sequenz „Im Jahr/Monat x ἔπαθεν ὑπὸ θεομηνίας (sowie gleichwertige Formeln) Stadt y“ (XVIII 40, 1) könnte auf die Verwendung einer besonderen Quelle bzw. auf den Einfluss von Predigern hinweisen; vgl. den (autobiographischen, wahrscheinlich von Malalas unabhängigen) Bericht über die Epidemie von Johannes von Ephesus (228,27-31 van Douwen/Land), wo die menschlichen Sünden explizit für die Katastrophe verantwortlich gemacht werden.
2/2 ἐπήγαγε πτῶσιν ἀνθρώπων: Einziger Beleg des Ausdrucks ἐπάγω πτῶσιν ἀνθρώπων, im Sinne von „ein Massensterben herbeizuführen“. Ἐπάγειν bedeutet in Malalas VII 9 und XVIII 141 „schlagen“, wird aber nie in Konjunktion mit πτῶσις benutzt; außerdem kommt πτῶσις in Malalas XVII 16 gleich drei Mal vor, aber immer mit der Bedeutung von „Einsturz“. XVIII 92,2 ist deswegen die einzige Stelle, wo πτῶσις (ἀνθρώπων) den Sinn von „Unheil“, „Menschensterben“ hat, was ein biblisches Echo sein könnte (vgl. LXX Ex. 30.12, Si. 3.31).
2/3 πτῶσιν ἀνθρώπων: Dass es hier um die Ausbreitung einer Krankheit geht, wird in dem Abschnitt eher implizit deutlich, da eine eindeutige Bezeichnung wie λοιμός fehlt (vgl. zu den antiken Begrifflichkeiten zur Bezeichnung von Seuchen Stathakopoulos 1998, 2f.; verbreitet ist außerdem die Bezeichnung als [μέγα] θανατικόν). Bei dem "Massensterben" (Übers. Thurn/Meier 2009, 505) handelt es sich jedoch sicher um die so genannte "justinianische Pest", die ab 542 n. Chr. weite Teile des oströmischen Reiches erfasste. Den ersten Ausbruch dieser Seuche in Ägypten erwähnt Malalas bereits in Kap. XVIII 90 (XVIII 90, 9f.).

Vgl. zu der von dort in raschem Tempo verbreiteten Pandemie, die das byzantinische Reich noch bis ins 8. Jahrhundert hinein verfolgen sollte, allgemein Biraben/Le Goff 1969, 58f.; Allen 1979; Durliat 1989; Stathakopoulos 2004, 110–154; 286–288 und passim; Meier 2004a, 321–340, 373–387; Meier 2005; Horden 2005; Leppin 2011a, 206–215; Meier 2016a.
2/8 εἰς ἐξάλειψιν: Vermutlich noch ein biblisches Echo (siehe oben, XVIII 92,1, und unten, XVIII 92,3): vgl. LXX Ezech. 9,6: πρεσβύτερον καὶ νεανίσκον καὶ παρθένον καὶ νήπια καὶ γυναῖκας ἀποκτείνατε εἰς ἐξάλειψιν („Greise, Jünglinge und Jungfrauen, Kinder und Frauen metzelt nieder, bis alles vernichtet ist“,). Der Ausdruck εἰς ἐξάλειψιν, der als direkte Übersetzung des entsprechenden Hebräischen Ausdrucks לְמַשְׁחִית (ləmašḥîṯ, lit. „zur Zerstörung“) erkennbar ist und fast als adverbieller Zusatz („vollkommen niedermetzeln“) verstanden werden kann, wurde relativ oft von den Kirchenvätern erwähnt, entweder zusammen mit dem Rest des Verses (siehe z.B. Eus. Comment. in Ps. 23,561,8; [Greg.Nyss.] Test. adv. Jud. 46,224,12; Basil. Caes. Hom. super Ps. 29,465,25) oder allein (wie in Basil. Caes. Liturgia 31,1629,22; [Johan. Chrys.] In Ps. 139, 55,710,25; siehe auch Georg. Mon. Chronicon 465,15, 641,2).
2/10 ἐν πάσαις ταῖς πόλεσι καὶ ἐν ταῖς χώραις: Die weite Verbreitung der Seuche wird durch eine Vielzahl von Berichterstattern bestätigt. Auch wenn moderne Kommentatoren darauf hingewiesen haben, dass der archäologische und epigraphische Befund nur spärliche Hinweise auf das Geschehen gibt (vgl. insbes. Durliat 1989), sind dessen außerordentliche Dimensionen doch nicht zu bestreiten: Dazu detailliert Horden 2005, 134–139 mit Karte 7; zu Durliat insbes. 153–155.
3/10 θνῆσις: Zur Verwendung von θνῆσις für die Bezeichnung der Pest XVIII 90, 9.
3/11 ἐπὶ χρόνον: Zur regelmäßigen Verwendung von ἐπί und Akkusativ, um die Erstreckung über einen Zeitraum auszudrücken bei Malalas siehe Rüger 1895, 41. Vgl. neben der Wendung ἐπὶ ἔτη (von der Zahl der Jahre gefolgt), die oft benutzt wird (siehe z.B. III 8,11, VII 4), auch έπὶ φανερόν χρόνον (XIII 17); ὡς ἐπὶ χρόνον (XVII 16); ἐπὶ ἡμέρας (XVIII 92).
3f./7 ἐπεκράτησεν γὰρ ἡ θνῆσις ἐπὶ χρόνον, ὥστε μὴ αὐταρκεῖν τοὺς θάπτοντας: Die Schwierigkeiten, die es bereitete, die vielen Verstorbenen zu bestatten, werden auch anderswo thematisiert: Procop. BP II 23,5–12; Ps. Dion. 74.; vgl. auch Theoph. 232,14–15 de Boor zur erneuten Pestwelle von 558. In der Erinnerung der Zeitgenossen blieb der Anblick der auf den Straßen liegenden Toten offenbar als besonders eindrückliches Sinnbild für die außerordentliche Qualität der Katastrophe haften. Es handelt sich hier allgemein um einen Aspekt von Seuchen, der in (vormodernen) Berichten besonders häufig hervorgehoben wird: Vgl. Meier 2005, 94.
4/1 ὥστε: Zu Malalas’ Verwendung von ὥστε + Infinitiv zur Einleitung eines Konsekutivsatzes, der zur Angabe der Folgen von Naturkatastrophen dient, XVIII 124, 2.
4/2 μὴ αὐταρκεῖν τοὺς θάπτοντας: „Die, die begruben, reichten nicht aus“, weil die Zahl der Opfer dramatisch gestiegen war (vgl. die ähnliche Bemerkungen von Johannes von Ephesos in vanDouwen/Land 1889, 228,9-14, und ibid. 19f.). Αὐταρκεῖν im Sinne von „ausreichen“ begegnet auch bei XVIII 23, 17 (τοῦ κουράτωρος ἀντειπόντος τῷ αὐτῷ βασιλεῖ μὴ αὐταρκεῖν τὰ τῶν ληγάτων πρὸς τὰ τῆς διαθήκην). An beiden Stellen verzeichnet Dindorf 1831, 440; 482 die Konjektur ἀνταρκεῖν („gegen etwas genügen“) im Apparat, vielleicht aufgrund der paläographischen Ähnlichkeit beider Verben. Ἀνταρκεῖν scheint jedoch nicht zu Malalas’ Wortschatz zu gehören; der Vorschlag ist für XVIII 23, 17 sicher überflüssig. Für die vorliegende Stelle (XVIII 92) ist er zwar inhaltlich akzeptabel, aber nicht notwendig. (Laura Carrara)
5/2 κραβάτοις: 'Pritschen', hier kontextbedingt 'Tragbahren'; vgl. das lateinische grabātus (-attus). Nach Kretschmer 1921, 91ff., ist κράβατος ein Lehnwort aus dem Makedonischen; seine Rekonstruktion ist aber umstritten (siehe Beeks/vanBeek 2010, Etymological Dictionary, s.v. κράββατος). Es ist nicht auszuschließen, dass das Fremdwort unabhängig von Griechen und Römern übernommen wurde. Die Orthographie variiert starkt: κράβατος, κράββατος, κραβάττος, κράβακτος, κράβακτον (τό) sind die dokumentierten Formen (dazu die Diminutive κραβάτιον, κραβάκτιον und das Adjektiv κραβακτήριος). Auch die Malalas-Handschrift O ist bezüglich der Schreibweise von κράβατος uneinheitlich: Vor dem Eingriff in den Text von Chilmead kam an dieser Stelle ursprünglich das Substantiv als κραβάττοις vor, während die überlieferte Lesart in XVIII 127 κραββάτους ist. Die Malalas-Chronik kennt auch mit ähnlicher Bedeutung die weibliche Form κραβαταρέα (-ία): Malal. XVI 6 (λαβόντες εἰς κραβαταρέαν) und XVIII 18 (ἐπόμπευσεν εἰς κραταβαρίαν).
5/3 ἐξέφερον: Hier ohne Akkusativ von Malalas verwendet; das implizite Objekt („die Leichen“, die zur Bestattung zu bringen sind) wird durch den Kontext verständlich.
6/3 σκηνωμάτων: Einziger Beleg von σκήνωμα, „Zelt“ (sowie „Tempel“, siehe LXX Ps. 14(15),1), hier eigenartig im Sinne von „Leiche“ verwendet. Diese Benutzung ist eine Besonderheit im Wortschatz des Malalas, die keine Parallele in der griechischen Literatur hat: siehe dazu Festugière 1978, 232. 2 Ep.Pet. 1.13 (δίκαιον δὲ ἡγοῦμαι, ἐφ’ ὅσον εἰμὶ ἐν τούτῳ τῷ σκηνώματι, διεγείρειν ὑμᾶς ἐν ὑπομνήσει) dokumentiert allerdings einen metaphorischen Gebrauch von σκήνωμα als „Verkleidung der Seele“, bzw. „Körper“, die wahrscheinlich aus dem Einfluss der üblicheren, analogen Verwendung von σκῆνος („Zelt“, auch im Sinne von „Körper“ in der klassischen Zeit und von „Leiche“ in verschiedenen Inschriften vorkommend) stammte. Malalas’ Gebrauch von σκήνωμα verrät deswegen einen Einfluss der Sprache des Neuen Testamentes auf seinen Wortschatz (und/oder vielleicht auf den Wortschatz seiner Quelle; zur auffälligen Anwesenheit von neutestamentlichen Formeln in der Beschreibung der Pestepidemie des Jahres 542 n. Chr. siehe bereits XVIII 92, 1ff., XVIII 92, 2, XVIII 92, 2).
6f./7 τινὲς γὰρ καὶ τῶν ἰδίων προσγενῶν τὴν ταφὴν οὐκ ἔβλεπον: Dass nicht mehr alle in der Lage waren, ihre eigenen Verwandten zu bestatten, bestätigt Prokop: Er berichtet von der Einsetzung eines Referendarius namens Theodoros, der u.a. dafür zuständig gewesen sei, all jene Toten zu bestatten, für die keine Verwandten mehr aufkommen konnten (BP II 23,7). Damit sucht er in bewusstem Kontrast zu seinem literarischen Vorlagengeber Thukydides die ordnungsstiftende Kraft des kaiserlichen-christlichen Wirkens hinauszustellen: Meier 2005, 94. Dass der kaiserliche Sonderbeauftragte bei Malalas unerwähnt bleibt, ist angesichts der typischen Interessensschwerpunkte des Chronisten – zu denen staatliche Hilfsmaßnahmen gegen Katastrophen zweifelsohne gehören – durchaus bemerkenswert (vgl. für Berichte über Sonderemissäre etwa Malal. X 19; XVII 17). Die vergleichsweise ausführliche Darstellung des Begräbnis-Sachverhaltes sowie die Staffelung der Nachrichten (die Begrabenden reichen nicht aus – die Hilfsmittel helfen nicht – Leichen bleiben tagelang umbeerdigt – selbst die eigenen Verwandten werden nicht beigesetzt) zeigen deutlich den gravierenden Charakter der Situation.
7/9 εὐσπλαγχνία: Gottes 'Mitleid' (nachklassisch und biblisch, vgl. εὔσπλαγχος 'mitleidig' in LXX Prec. Man. 7, Ep. Eph. 4.32, 1. Ep. Pet. 3.8) wird hier in singulärer Weise fast als Synonym von „Pestepidemie“ verwendet; Festugière 1978, 226, weist auf den ähnlichen Fall des Gebrauches der Formel ἡ φιλανθρωπία θεοῦ in Bezug auf ein Erdbeben hin, siehe XVII 16, XVIII 128. Nach GLRBP ist Malalas’ Verwendung von εὔσπλαγχία als ‚antiphrastisch’ statt ἡ ὀργή zu verstehen. Malalas' Deutung der Naturkatastrophen ist jedoch überhaupt nicht ironisch; wahrscheinlich findet hier eher eine extrem brachylogische Glaubensbezeugung statt, indem Gottes Strafe als Zeichen seiner gerechten Fürsorge für die Menschheit interpretiert wird XVIII 92, 7f.; vgl. die analoge Betrachtungen in Johannes von Ephesos: "Although this (chastisement) was very frightening, grievous and severe, it would be right for us to call it not only a sign of threat and of wrath but also a sign of grace and a call to repentance" (Ps. Dion. 85 Witakowski). (Laura Carrara)
7f./6 ἐπεκράτησεν δὲ ἡ εὐσπλαγχνία τοῦ θεοῦ ἐν Βυζαντίῳ ἐπὶ μῆνας δύο: Zur ungewöhnlichen Begriffsverwendung siehe XVIII 92, 7.

Die εὐσπλαγχνία τοῦ θεοῦ ("Gottes Milde" Thurn/Meier 2009, 506) wird hier offenbar als Synonym für die Pest verwendet. ἐπεκράτησεν ("hielt an") bezeichnet in Buch XVIII noch mehrfach das Andauern von Übeln (Erdbeben [XVIII 118; 124], Straßenschlachten [XVIII 135], eine weitere Welle der Seuche [XVIII 127]) und passt somit gut in den Kontext. Procop. BP II 23,1 bestätigt das mehrmonatige Anhalten der Pest, wenngleich seine Angaben etwas abweichen: Ihm zufolge wütete die Pest insgesamt vier Monate in der Stadt, wovon sie drei "in voller Blüte stand" (ἤκμασε). Die Gleichsetzung von Pest und göttlicher Gnade entspricht einer Auslegung des Geschehens als Maßnahme Gottes zur Bekehrung irdischer Sünder. Vgl. die treffende Interpretation dieser Stelle bei Kaldellis 2007, 6: "By definition, all that God does, however terrible it may appear, is done out of compassion and love"; ganz ähnlich explizit Ioann. Eph. 227,25–240,30 Brooks (Zitat der englischen Übersetzung in XVIII 92, 7); siehe auch Meier 2004a, 336.
Parallelüberlieferung
Theoph. 222,22–23 de Boor; Ioann. Eph. 227,25–240,30 Brooks; Ps. Dion. 74–98 Witakowski; Mich. Syr. 9,28 (?); Georg. Mon. 641 de Boor; Leo Gramm. 127,17–128,1 (?); Procop. BP II 22–23 "et multi alii": Thurn 2000, 407 App., darunter Cedr. 675, 20-676, 8 Bekker
Literatur
Allen (1979): Allen, P.: The "Justinianic" Plague, Byzantion, 1979, 5–20.
Beeks/vanBeek (2010): Beeks, Robert/van Beek, Lucien: Etymological Dictionary of Greek, Leiden/Boston, 2010.
Biraben/Le Goff (1969): Biraben, J.-N./Le Goff, J.: La peste dans le Haut Moyen Age, Annales ESC, 1969, 1484–1510.
Durliat (1989): Durliat, J.: La peste du VIe siècle. Pour un nouvel examen des sources byzantines, Hommes et richesses dans l'empire byzantin, 1989, 107–119.
Festugière (1978): Festugière, André-Jean: Notabilia dans Malalas. I, Revue de Philologie, 1978, 221–241.
Horden (2005): Horden, Peregrine: Mediterranean Plague in the Age of Justinian, The Cambridge Companion to the Age of Justinian, 2005, 134–160.
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Kislinger/Stathakopoulos (1999): Kislinger, E.; Stathakopoulos, D.: Pest und Perserkriege bei Prokop. Chronologische Überlegungen zum Geschehen 540–545, Byzantion, 1999, 76–98.
Kretschmer (1921): Kretschmer, Paul: Der Götterbeiname Grabovius auf den Tafeln von Iguvium. Festschrift Adalbert Bezzenberger zum 14. April 1921 dargebracht von seinen Freunden und Schülern, 1921, 89–96.
Leppin (2011a): Leppin, Hartmut: Justinian. Das christliche Experiment, Stuttgart, 2011.
Meier (2004a): Meier, Mischa: Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr., Göttingen, 2004.
Meier (2005): Meier, Mischa: "Hinzu kam auch noch die Pest ..." Die sogenannte justinianische Pest und ihre Folgen, Pest. Die Geschichte eines Menschheitstraumas, 2005, 86–107.
Meier (2016a): Meier, M.: The 'Justinianic Plague': The Economic Consequences of the Pandemic in the Eastern Roman Empire and Its Cultural and Religious Effects, Early Medieval Europe, 2016, 267–292.
Rüger (1895): Rüger, Anton: Studien zu Malalas. Präpositionen und Adverbien. Das 18. Buch. Die konstantinischen Excerpte. Die tuskulanischen Fragmente, Bad Kissingen, 1895.
Stathakopoulos (2004): Stathakopoulos, D. Ch.: Famine and Pestilence in the Late Roman and Early Byzantine Empire, Aldershot/Burlington, 2004.
Thurn (2000): Thurn, Johannes: Ioannis Malalae Chronographia, Berolini et Novi Eboraci, 2000.
Thurn/Meier (2009): Thurn, Johannes/Meier, Mischa: Johannes Malalas Weltchronik., Stuttgart, 2009.
vanDouwen/Land (1889): : Joannis Episcopi Ephesi Syri Monophysitae Commentarii de beatis orientalibus et Historiae ecclesiasticae fragmenta, Amsterdam, 1889.