Malalas 18.90 1–17 = 87–8 (Thurn)
Kapitel 90 enthält den ungewöhnlichen Bericht über eine wahrsagende Frau und die starken Reaktionen, die ihre Vorhersagen in der Hauptstadt hervorriefen: Ihre Ankündigung, Konstantinopel werde binnen drei Tagen von den Fluten verschlungen werden, erscheint den Menschen aufgrund gerade eingetroffener Katastrophenmeldungen aus verschiedenen Reichsteilen plausibel. Das Volk bricht daraufhin in Gebete und Bittprozessionen aus, um das drohende Schicksal noch abzuwenden. Als Vertreter der kaiserlichen Gewalt wird schließlich der Hofkammerherr Narses mit Gefolge entsandt, um den Fall zu untersuchen; auch ohne sein direktes Zutun, sondern nur aus Furcht vor den Vorhersagen zerstreuen sich jedoch bald zumindest Teile der Volksmenge wieder.
Philologisch-Historischer Kommentar
Parallelüberlieferung
Literatur
Das Adverb πλησίον in Verbindung mit topographischen Fixpunkten (Gebäuden) benutzt Malalas mit Blick auf seine Heimatstadt Antiochia üblicherweise zur Bezeichnung von Stadtvierteln, wie Caire (im Druck) jüngst gezeigt hat. Es steht zu vermuten, dass diese Verwendung sich auch auf den hiesigen Fall übertragen lässt. Meier 2004a, 323 weist darauf hin, dass zwei von Theophanes überlieferte Erdbeben (Theoph. 222,25–30 de Boor und Theoph. 229,5–14 de Boor), von denen sich eines mit eng verwandtem Text auch bei Malalas findet (Malal. XVIII 118), auf besonders starke Schäden in der Gegend nahe dem Goldenen Tor verweisen. Damit scheint sich die Ansprache des Goldenen Tores als "Marker" eines Stadtviertels zu bestätigen. Nach Meier muss der Umstand, dass gerade jenes Viertel, in dem sich der Vorfall um die Wahrsagerin abgespielt hatte, kurze Zeit später besonders schwer von einem Erdbeben getroffen wurde, von den Zeitgenossen (zusammen mit einer weiteren wundersamen Koinzidenz, vgl. XVIII 90, 4 ) als Ausweis eines einheitlichen "Geschehniszusammenhanges" gedeutet worden sein. (Jonas Borsch mit Florian Battistella)
Es kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass an dieser Stelle das Zahlwort εἵς, μία, ἕν seine ursprüngliche Bedeutung bewahrt hat und eher die Tatsache zum Ausdruck bringt, dass die alte Frau in einer einzigen Nacht von Wahrsagerei erfüllt wurde. In diesem Fall würde die Emphase auf der Gegenüberstellung zwischen der kurzen Dauer des Vorfalls (μία νύξ - eine einzige Nacht) und der großen Zahl der in dieser Zeit verkündeten Prophezeihungen (πολλά) liegen.
Setzt man voraus, dass dem Verfasser dieser Passage diese Konnotationen des Verbes bewusst waren, dann ist diese terminologische Wahl in doppelter Hinsicht interessant: Auf der stilistischen Ebene hat er mit φλυαρέω ein Verb ausgesucht, das auf die Leser der Chronik wie ein auffälliger Attizismus gewirkt haben muss. Auf der Ebene der Semantik disqualifiziert das Verb vordergründig die Prophezeiungen der alten Frau, da diese als leeres Geschwätz eingeführt werden. Das hat Folgen für die Interpretation der Passage: Wenn die Vorhersagen der alten Frau ein φλυαρεῖν in o.g. Sinn sind, dann können die Reaktionen der Bevölkerung nicht anders als Ausdrücke übertriebenen, unbegründeten Aberglaubens sein.
Meier 2004a, 323 beobachtet, dass der Gedenktag des Diomedes, der 16. August, mit dem Tag zusammenfällt, an dem im Jahr 542 ein Erdbeben die Stadt traf (Janin 1953, 102; vgl. Typicon I 372–374): Er geht davon aus, dass das Eintreten einer Katastrophe gerade am Tag jenes Heiligen, in dessen Kirche die Wahrsagerin bestaunt worden war, von der Bevölkerung als Hinweis auf überirdische Zusammenhänge gedeutet werden musste XVIII 90, 2 .
Τούτῳ τῷ ἔτει ἐπανέστη ἡ θάλασσα τῇ Θρᾴκῃ ἐπὶ μίλια δʹ καὶ ἐκάλυψεν αὐτὴν ἐπὶ τὰ μέρη Ὀδύσσου καὶ Διονυσοπόλεως καὶ τὸ Ἀφροδίσιον· καὶ πολλοὶ ἐπνίγησαν ἐν τοῖς ὕδασιν. καὶ πάλιν τῷ τοῦ θεοῦ προστάγματι ἀπεκατέστη ἡ αὐτὴ θάλασσα εἰς τοὺς ἰδίους τόπους
"In diesem Jahr brach das Meer in Trakien über eine Strecke von vier Meilen herein und überflutete die Region im Bereich Odyssos, Dionysopolis und Aphrodision. Und viele ertranken in den Gewässern. Und auf Befehl Gottes zog sich dieses Meer wieder auf seine eigentlichen Grenzen zurück" (Übersetzung von Thurn/Meier 2009, 505 Anm. 558, leicht modifiziert).
Möglich ist es auch, dass die zitierte Theophanes-Stelle im Ur-Malalas auf den (dort ebenfalls bereits vorhandenen) ἠκούετο-Satz folgte, der somit als eine Art 'zusammenfassende Einleitung' des Berichts über die vielen Überschwemmungen diente, siehe für diese Rekonstruktion Jeffreys/Jeffreys/Scott 1986, 286. Der Passiv-Aorist von καταπίνω gehört in der Tat zum Wortschatz des Malalas im Kontext einer Überschwemmung, vgl. Malal. XVII 15 XVIII 90, 8 .
Von einer Zugehörigkeit der zitierten Theophanes-Passage zum Ur-Malalas gehen auch Mango/Scott 1997, 326 Anm. 1 aus, wobei aus ihren Ausführungen nicht klar hervorgeht, an welcher Stelle des Malalas-Textes ihrer Meinung nach der Theophanes-Zusatz zu verorten sei. Einerseits behaupten sie, dass die fragliche Theophanes-Stelle unmittelbar auf den Satz mit der Prophezeiung der alten Frau über die bevorstehende Überschwemmung folgte (d.h. Z. 6f. des Thurn-Kapitels), andererseits geben sie als Stellenagabe dazu "Malal. 481.12", verweisen also auf Dindorf 1831, 481, Z. 12 (=Mal. XVIII 119), was mit dem späteren, einem anderen Thema gewidmeten θνῆσις-Satz korrespondiert. Vielleicht rechnen Mango und Scott mit der Möglichkeit, dass im Ur-Malalas die heutige Theophanes-Passage 224, 29–33 de Boor an der Stelle des ἠκούετο-Satzes stand (der dann nur Folge einer späteren Epitormierung wäre, s.o.)
Abgesehen von diesen Details, wird die Grundannahme, dass Theoph. 224, 29–33 de Boor den Ur-Malalas auf der einen oder anderen Weise als Vorlage hatte, in der Forschung allgemein akzeptiert (siehe auch Meier 2004a, 322 und 663 Anm. 63]); allein Rochow 1983, 469 betrachtet das als "unsicher".
Die Einführung dieses Einschubs mit ἠκούετο verweist auf in Konstantinopel grassierende Gerüchte; sie bestätigen den Inhalt der im vorangehenden Satz berichteten Weissagung (XVIII 90, 8 ).
Sowohl Festugière 1978, 226 als auch Thurn 2000, 486 setzen θνῆσις bei Malalas explizit und direkt mit 'Seuche, Pest' gleich. In erster Linie bedeutet allerdings das Substantiv θνῆσις, wie die Herleitung aus θάνατος / θνῄσκω nahelegt und wie auch in der soeben zitierten Stelle des des Artzes Rufus von Ephesos (1.-2. Jh. n. Chr.) der Fall ist (s.o.), auch bei Malalas 'Sterben, Sterblichkeit'.
Die Tatsache, dass Malalas θνῆσις oft im Kontext von Massensterben infolge einer Pestseuche benutzt, und dass die Pest auch bei Rufus von Ephesos der Hintergrund der Wortverwendung ist, ändert nichts an deren Grundbedeutung: Vgl. Malal. VIII 21 τὴν λοιμικὴν θνῆσιν ("Sterben infolge der Pest" richtig Thurn/Meier 2009, 214 – würde bereits θνῆσις an sich 'Pest' bedeuten, wäre die Spezifizierung λοιμική überflüssig); Malal. XVIII 92 ἐπεκράτησεν γὰρ ἡ θνῆσις ἐπὶ χρόνον, ὥστε μὴ αὐταρκεῖν τοὺς θάπτοντας ("Das Sterben hielt eine Zeit lang, sodass diejenigen, die begruben, nicht ausreichten" - der Hinweis auf die Bestatter macht klar, dass θνῆσις die Sterberate, nicht ihre Ursache, tatsächlich eine Pestepidemie, meint); Malal. XVIII 120 θνῆσις ἀνθρώπων ("Sterben von Menschen" ohne Nennung der näheren Ursache - Jeffreys/Jeffreys/Scott 1986, 295 bauen jedoch einen Hinweis auf die Pest in ihre Übersetzung ein: "people died of the plague"); Malal. XVIII 127 θνῆσις ἀπὸ βουβώνων ("Massensterben durch die Beulenpest" richtig Thurn/Meier 2009, 520 – würde θνῆσις allein 'Pest' bedeuten, wäre die Spezifizierung ἀπὸ βουβώνων überflüssig). An vorliegender Stelle steht es wie in Malal. XVIII 92 und 120: θνῆσις bezeichnet ein 'Massensterben', Hintergrund und Ursache dessen eine Pestepidemie ist(XVIII 90, 9f. ).
Ein ähnliches Phänomen könnte, in einem ähnlichen Kontext, auch in Malal. XVIII 89 vorliegen. Man könnte nämlich denken, dass dort (und zwar nach πέμψας in Z. 5) die abgekürzte Handschrift O die Namen der Gesandten des Kaisers weggelassen habe, während die Parallelüberlieferung (_EI_ 173, 6–9 de Boor) sie (und ihre jeweiligen militärischen und gesellschaftlichen Stellungen) aus dem Ur-Malalas übernahm. Andererseits ist die absolute (d.h. ohne Akkusativobjekt) Verwendung eines Partizips wie πέμψας nicht unüblich in der Malalas-Chronik (XVIII 89, 5 ); sie reicht an sich genommen nicht aus, um Textausfälle bzw. -auslassungen zu vermuten.
Anders als ὑπό, zählt ἀπό (zusammen z.B. mit παρά) zu den Präpositionen, die in Prosa vom Verb ἀκούω zur Bezeichnung der Quelle bzw. der Herkunft einer Information abhängen, siehe LSJ s.v. ἀκούω I c und z.B. Thuc. I 125, 1 Οἱ δὲ Λακεδαιμόνιοι, ἐπειδὴ ἀφ’ ἁπάντων ἤκουσαν γνώμην κτλ. Die Verwechslung zwischen ὑπό und ἀπό könnte unter dem Einfluss des wenige Zeilen zuvor vorkommenden (Z. 13), fast identischen Ausdrucks ὑπὸ τῆς γυναικός entstanden sein.