Malalas 18.93 1–2 = 20–21 (Thurn)

Inhalt

Kurze Schilderung eines Erdbebens in Kyzikos (Mysien), bei dem laut Malalas die Hälfte der Stadt einstürzte.

Philologisch-Historischer Kommentar
Parallelüberlieferung
Literatur

1 (20)
Μηνὶ σεπτεμβρίῳ <ςʹ, ἡμέρᾳ αʹ,> ἰνδικτιῶνος ζʹ ἐγένετο σεισμὸς ἐν
 
Κυζίκῳ, καὶ τὸ ἥμισυ τῆς αὐτῆς πόλεως ἔπεσε.
Philologisch-Historischer Kommentar
1/1 Μηνὶ σεπτεμβρίῳ <ς’, ἡμέρᾳ α’,> ἰνδικτιῶνος ζ’: Nach O fällt das Beben in den September der siebten Indiktion (543/544 = September 543). Theophanes ergänzt den 6. Tag des Monats (ς’) sowie den Sonntag (ἡμέρᾳ α’). Dem folgt auch Kedrenos. Die weitere Überlieferung nutzt z. T. andere Datierungssysteme (Jahr 854 der seleukidischen Ära = Oktober 542 – September 543: Ioann. Eph. 227,13 van Douwen/Land; Chronik von Zuqnīn = Ps. Dion. 73 Witakowski) oder ordnet das Ereignis nur grob ein (Meg. Chron. 43 Nr. 11 Schreiner; Zon. III 158, 1-2 Büttner-Wobst); zur Datierung bei Malalas und Theophanes stehen diese Angaben allerdings nicht im Widerspruch. Es bleibt gleichwohl darauf hinzuweisen, dass Pseudo-Dionysios (der sich auf Johannes von Ephesos stützt) an einer späteren Stelle ein Erdbeben in Konstantinopel und Kyzikos im Jahr 875 der seleukidischen Ära (= 563/64) erwähnt, welches deutliche Parallelen zum hier fraglichen Ereignis aufweist. Details über Folgen in Konstantinopel finden sich hier gemeinsam mit einer Datierung auf den 6. September und dem Verweis auf die Zerstörung von halb Kyzikos: Offensichtlich wurde hier also die Nachricht über das frühere Erdbeben in Kyzikos mit derjenigen über ein etwa zwanzig Jahre späteres Beben in Konstantinopel zusammengelegt (Chronik von Zuqnīn = Ps. Dion. 125 Witakowski). Ähnliches bietet auch Michael der Syrer – allerdings mit einer Datierung auf das 28. Regierungsjahr Justinians (April 554 – März 555). Die sukzessive Verlegung der Jahresdatierungen bei gleichzeitiger Übereinstimmung von Monats- und Tagesangaben und/oder weiteren inhaltlichen Details weist deutlich darauf hin, dass die syrische Überlieferung zwar von derselben Tradition abhängt wie Theophanes, Kedrenos oder Zonaras, das Ereignis aber chronologisch verschoben hat. Die bei Theophanes erhaltene Datierung auf den 6.9.543 dürfte insofern der Angabe in der 'Ur-Quelle' entsprechen. Übernahme dieses Datums auch bei Downey 1955, 598; Guidoboni 1989, 697; Guidoboni/Comastri/Traina 1994, 329; Ambraseys 2009, 197. Ohne Datumsangabe, aber mit Einordnung in das Jahr 543: Hermann 1962, 1110f.; Meier 2004a, 664.
1/3 <ς’, ἡμέρᾳ α’>: Die O-Version der Malalas-Chronik sagt über die Chronologie dieses Erdbebens nur, dass es „im September (in) der siebten Indiktion“ stattfand. Die doppelte Information, dass der fragliche Tag der sechste (ς’) des Monats war und ein Sonntag (ἡμέρᾳ α’ – der erste Tag der Woche), ist von Thurn 2000, 408 aus Theoph. 224,11 de Boor abgeleitet worden. Ausgangspunkt dieser – sachlich korrekten (nachzuprüfen anhand der Tabelle von Grumel 1958, 316; vgl. auch ebendort 478) – Ergänzung ist die Annahme, dass sich hinter Theophanes’ zweizeiliger Beschreibung dieses selben Bebens (Theoph. 224,11–13 de Boor) die ursprüngliche Version der Malalas-Chronik verbirgt. Ob Theophanes in diesem Fall aus dem ‚Ur-Malalas‘ direkt oder doch indirekt durch eine Mittelquelle (den sog. Megas Chronographos: siehe dazu den Exkurs unten) schöpfte, kann dahingestellt bleiben. Die in diesem Zusammenhang wichtige Frage ist, wie viel bzw. was genau aus der Theophanes-Darstellung dieses Bebens für die Rekonstruktion der ursprünglichen Version der Malalas-Chronik gewonnen werden kann. Thurn 2000, 408 übernahm allein die vollständigere Datierung; die Theophanes-Passage (Theoph. 224,11–13 de Boor) hat allerdings mehr zu bieten:

τούτῳ τῷ ἔτει μηνὶ Σεπτεμβρίῳ ϛ’, ἡμέρᾳ α’, ἰνδικτιῶνος ζ’ γέγονεν σεισμὸς μέγας εἰς ὅλον τὸν κόσμον ὥστε πτωθῆναι τὸ ἥμισυ τῆς Κυζίκου.

„In diesem Jahr im Monat September, am sechsten Tag, einem Sonntag, der siebten Indiktion ereignete sich ein großes Erdbeben über die ganze Welt, sodass die Hälfte der Stadt Kyzikos zu Boden fiel."

Möchte man den Text des ‚Ur-Malalas‘ mithilfe dieser Theophanes-Stelle wiederherstellen, dann könnte man denken, dass zu der O-Version nicht nur <ς’, ἡμέρᾳ α’>, sondern – um der Konsequenz Willen – auch μέγας εἰς ὅλον τὸν κόσμον hinzuzufügen sei. Dieser These zufolge hätte der Urheber der epitomierten Baroccianus-Version erstens die Datierung vereinfacht, zweitens den Ausdruck μέγας εἰς ὅλον τὸν κόσμον gestrichen und drittens die einzig übriggebliebene Ortsangabe ἐν Κυζίκῳ nach vorne in den Hauptsatz gezogen; dabei hätte er den inhaltlos gewordenen Konsekutivsatz geopfert. Baroccianus habe also aus einer ‚kosmischen Katastrophe‘ (deren Wirkung in Kyzikos von Malalas exemplarisch angeführt worden war) ein lokales Kyzikos-Beben gemacht – eine nicht unerhebliche Änderung. Auch die syrische Überlieferung (Ioann. Eph. 227,13–15 van Douwen/Land; z.T. davon abhängend Chronik von Zuqnīn = Ps. Dion. 73 und 125 Witakowski; Mich. Syr. IX 31 Chabot), die auf den ‚Ur-Malalas‘ zurückgeht (XVIII 52, 1), vermittelt das Bild einer Erderschütterung mit breitflächigen Auswirkungen über Kyzikos hinaus, obwohl dort freilich eine dem griechischen Ausdruck μέγας εἰς ὅλον τὸν κόσμον entsprechende Formel fehlt. Die Entscheidung über die Aufnahme von μέγας εἰς ὅλον τὸν κόσμον in den hypothetischen ‚Ur-Malalas‘ ist nicht mit letzter Sicherheit zu treffen, Thurn 2000, 408 hat diesbezüglich eine vorsichtigere Position eingenommen.

Die syrische Überlieferung beinhaltet ferner eine kurze Schilderung der erdbebenbedingten Gebäudeschäden in Kyzikos, welche in der klassischen lateinischen Übersetzung von Johannes von Ephesos durch vanDouwen/Land 1889, 227,15–16 lautet:

muri pleroque dejecto aut diffracto; dum ea pars quae non ceciderat, prona et inclinata quasi labaret relicta est.

Diese Schilderung findet keine Parallele in der griechischsprachigen Malalas-Tradition zu diesem Erdbeben (dazu zählen neben der bereits angeführten Theophanes-Stelle und dem Meg. Chron. noch Cedr. 408.2,10–12 Tartaglia und Zon. III 158,1–2 Büttner-Wobst – sie bieten inhaltlich nichts Neues). Sie ist wohl als eine autonome Erweiterung der Vorlage – d.h. des ‚Ur-Malalas‘ – durch Johannes von Ephesos anzusehen, dessen blumigem Stil sie gut entspricht; siehe allgemein dazu Debié 2004, 160–163 und XVIII 52, 1. Das bedeutet nicht, dass sie notwendigerweise falsch ist und gar keinen Realitätsbezug hat: XVIII 93, 2.


*Exkurs: Der Megas Chronographos*

Der Megas Chronographos ist für die Malalas-Forschung insofern relevant, als es sich dabei um einen weiteren Vertreter der späteren Malalas-Tradition handeln könnte und somit zumindest potentiell um ein zusätzliches Zeugnis für die Rekonstruktion des ‚Ur-Malalas‘. Mit dem Namen Megas Chronographos (im Folgenden abgekürzt als Meg. Chron.) bezeichnet man die spärlichen Reste eines chronographischen Werkes, die als sekundäre ‚Füllung‘ der berühmten Lücke in den fols. 241v–242v der vatikanischen Handschrift des Chronicon Paschale (Vat. gr. 1941, 10 Jh.) überliefert sind. Während die obere Hälfte von fol. 242v die von der Forschung im Zusammenhang mit dem Nika-Aufstand heiß debattierten Akta dia Kalopodion beinhaltet, bieten die anderen, vom Schreiber der ersten Textschicht (= Chron. Pasch.) leer gelassenen Blätter vierzehn Einträge unterschiedlicher Länge über katastrophale Ereignisse der Jahre 477–750 n. Chr.; sie sind als Liste organisiert und tragen die Überschrift ἄλλως ἀπὸ τοῦ μεγάλου χρονογράφου, „anders: aus dem Großen Chronographen“: siehe zur hier kurz skizzierten Überlieferungssituation grundlegend Maas 1912, 46–47; ferner Freund 1882, 38; Schreiner 1975, 37–40; Whitby 1982, 1, 9–10; Whitby/Whitby 1989, 112 Note A, 192; Jeffreys 1990f, 256.

Der hier relevante Eintrag aus dem Meg. Chron. lautet in der Ausgabe und Übersetzung von Peter Schreiner wie folgt (vgl. Schreiner 1975, 43 Nr. 11 bzw. Schreiner 1979, 13 Nr. 11; griechischer Text und englische Übersetzung bei Whitby 1982, 19 Nr. 9 bzw. Whitby/Whitby 1989, 196 Nr. 9; editio princeps bei Freund 1882, 40 Nr. 9):

ὅτι ἐπὶ τῆς βασιλείας Ἰουστινιανοῦ σεισμὸς μέγας εἰς ὅλον τὸν κόσμον γέγονεν ὥστε πτωθῆναι τὸ ἥμισυ τῆς Κυζίκου.

„Dass unter der Kaiserherrschaft des Justinian ein gewaltiges Beben auf der ganzen Erde war, sodass die Hälfte von Kyzikos einfiel“.

Nach Schreiner 1977, 76 „stimmt die Chroniknotiz wörtlich mit Theophanes überein“; das trifft nicht ganz zu, da die Datierungen sich unterscheiden: Theophanes’ präziser Angabe τούτῳ τῷ ἔτει μηνὶ Σεπτεμβρίῳ ϛ’, ἡμέρᾳ α’, ἰνδικτιῶνος ζ’ steht beim Meg. Chron. die vagere Formel ἐπὶ τῆς βασιλείας Ἰουστινιανοῦ gegenüber. Die Formel ἐπὶ τῆς βασιλείας + Genitiv des jeweiligen Kaisernamens ist die übliche Abschnittseinleitung in den Resten des Meg. Chron.: Sie könnte tatsächlich auf einen Eingriff des Urhebers der vatikanischen Katastrophenliste zurückgehen, der die Originalversion des Meg. Chron. exzerpierte und die dort gebotenen Datierungen vereinfachte (so Whitby/Whitby 1989, 192 und bereits Freund 1882, 43). Es könnte also gut sein, dass der Kyzikos-Eintrag in Theophanes und in Meg. Chron. tatsächlich identisch war. Unter Berücksichtigung der anderen Einträge des Meg. Chron., die nicht immer eine Entsprechung bei Theophanes finden, hat die Forschung zwei unterschiedliche Vorschläge bezüglich des zeitlichen Verhältnisses zwischen diesen zwei Werken hervorgebracht: Entweder war der Meg. Chron. Vorläufer und auch Quelle des Theophanes (so Whitby 1982; vgl. auch Whitby/Whitby 1989, 193; Rochow 1983, 469 bezüglich der Theophanes-Datierung des Kyzikos-Bebens: „Herkunft wohl aus Megas Chronographos“); oder umgekehrt: Theophanes ging dem Meg. Chron. voraus (so z.B. Maas 1912, 47; Cameron 1976, 325; Mango 1990, 17–18; Mango/Scott 1997, XC–XCI). Beide Alternativen konfrontieren die Malalas-Forschung mit derselben Grundsatzfrage, nämlich ob diese Traditionslinie etwaige nur bei ihr vorhandene Zusatzinformationen (für das Kyzikos-Beben konkret die sehr präzise Datierung und die Notiz μέγας εἰς ὅλον τὸν κόσμον) aus dem ‚Ur-Malalas‘ schöpfte oder nicht. Für den hier besprochenen Kyzikos-Eintrag könnte das gut möglich sein, wie Thurns Aufnahme zumindest der Datierung (nicht aber der Notiz μέγας εἰς ὅλον τὸν κόσμον) in seinen Malalas-Haupttext zeigt; diese Möglichkeit lässt für das Kyzikos-Kapitel (sowie für Malal. XVIII 118 und 128) auch Jeffreys 1990f, 257 offen, contra (zumindest implizit) Meier 2000, 292 Anm. 18. Andere Einträge des Meg. Chron. und die ihnen entsprechenden Theophanes-Passagen finden allerdings in der O-Version der Malalas-Chronik gar keine Entsprechung und hängen eher von anderen Chroniken des 6. Jahrhunderts wie den Anecdota Cramer oder der ‚konstantinopolitanischen Stadtchronik‘ ab: Siehe für diese letzte Freund 1882, 46–48 und ferner Whitby 1982, 10–11; Whitby/Whitby 1989, 193 sowie die Anmerkungen zu ihrer Übersetzung des Meg. Chron.; Jeffreys 1990f, 256–257.
1/8 ἐγένετο σεισμός: Die Formel σεισμός + eine Form des Verbes γίγνομαι wird ab XVIII 55, 1 zur Verzeichnung eines Erdbebens verwendet. (Laura Carrara)
2/1 Κυζίκῳ: Stadt in Mysia an der Südküste der Propontis auf dem Isthmos der Halbinsel Arktonnesos (Kapıdağ), h. Balkız. Zur Stadtgeschichte IV 8, 6. Kyzikos lag in einer seismisch außerordentlich aktiven Region; die Stadt beherbergte seit hellenistischer Zeit einen Kult des Poseidon Asphaleios, der u.a. Schutz vor Erdbeben bieten sollte: Daux 1943, Nr. 343; SIG³ 799 II; dazu Thély 2014. Frühere Erdbeben in Kyzikos sind für die Regierungszeiten des Hadrian (Malal. XI 16) und des Antoninus Pius (Cass. Dio 70,4) überliefert; zu ihrem Zusammenhang mit der Baugeschichte des berühmten hadrianischen Zeustempels von Kyzikos IV 8, 6. Hasluck 1910, 193 vermutet, dass es die Folgen dieses Erdbebens waren, die es Justinian erlaubten, für den Bau der Sophienkirche in Konstantinopel Säulen aus Kyzikos beschaffen zu lassen (der entsprechende Hinweis entstammt der Schrift des Pseudo-Kodinos über den Bau der Kirche: Preger 1901a, 77, 1–3; Übersetzung bei Dagron 1984, 197) und bezieht sich aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich auf Spolien, was jedoch nicht völlig ausschließt, dass der Marmor dennoch aus den in Kyzikos vorhandenen Steinbrüchen stammte (vgl. Dagron 1984, 217, Anm. 20). Ob das Erdbeben wiederum entscheidend dafür war, dass in Kyzikos Spolien verfügbar wurden, ist nicht zu beweisen. Einziger Hinweis bleibt die grobe zeitliche Koinzidenz von Beben und Kirchenbau. Dass, wie Hasluck 1910, 193 weiter überlegt, das Beben die sukzessive Aufgabe von Kyzikos zugunsten des benachbarten Artake initiiert haben könnte, bleibt ebenfalls Vermutung: Zur eher katalysatorischen als ursächlichen Wirkung von Erdbeben auf den 'Niedergang' oströmischer Provinzstädte im 6. Jahrhundert vgl. Posamentir 2016.

Die möglicherweise bereits auf den 'Ur-Malalas' zurückgehende Bezeichnung des Bebens als "kosmisch" (XVIII 93, 1) trägt topische Züge (zu Tendenzen der topischen ‚Entgrenzung‘ von Erdbeben seit der Kaiserzeit Waldherr 1997b, 198–200), bezeugt aber jedenfalls eine Wahrnehmung des Ereignisses als weitreichend und bedeutungsgeladen.
2/3 τὸ ἥμισυ τῆς αὐτῆς πόλεως ἔπεσε: Der Verweis auf die Zerstörung der halben Stadt ist in seiner Ausformulierung stereotyp (XVIII 93, 2) und kann insofern nur mit Vorsicht als Indikator für das Schadensausmaß herangezogen werden. Die Parallelüberlieferung bietet gleichwohl ergänzende Informationen: Demnach stürzte der Großteil der Mauer bzw. Stadtmauer ein oder wurde ernsthaft beschädigt (Ioann. Eph. 227,13-15 van Douwen/Land; Chronik von Zuqnīn = Ps. Dion. 73 Witakowski); bei Pseudo-Dionysios findet sich zudem eine bemerkenswerte, als Augenzeugenbericht präsentierte Ergänzung, nach der man vor Ort schiefstehende und umgestürzte Säulen habe sehen können und weite Teile der Stadt durch Zedernholzkonstruktionen gestützt wurden (Chronik von Zuqnīn = Ps. Dion. 73 Witakowski; vgl. auch die inhaltliche Ergänzung einer unsicheren Lesung nach Hespel 1989, 59: "[…] nous avons vu les colonnes du forum penchées et sur leur sommet extérieur, tandis que sur leur (base) intérieure, certains faisaient passer leurs mains"). Derselben Stelle zufolge waren ähnliche Maßnahmen auch in anderen Städten vonnöten. Auch die sehr knappe Notiz Michaels des Syrers enthält einen kursorischen Schlussverweis auf andere Städte. Guidoboni/Comastri/Traina 1994, 329 assoziieren das Beben mit einem in der Chronik von 724 für das Jahr 544 erwähnten seismischen Ereignis, dessen Darstellung ihrer Ansicht nach auf eine Flutwelle schließen lässt. In der lateinischen Übersetzung von Chabot lautet der Eintrag: terra quassata est et urbes submersae sunt – "die Erde wurde geschüttelt und Städte wurden bedeckt/versenkt". Es scheint vertretbar, diese Stelle mit dem fraglichen Ereignis in Verbindung zu bringen. Entgegen Ambraseys 2009, 197, der für eine Flutwelle keine Evidenz finden kann, eröffnet die Formulierung einen Anfangsverdacht für durch eine sekundäre Überflutung bedingte Zerstörungen – selbst wenn es erstaunlich erscheint, dass nur ein einzelner Bericht über diese Wirkung informiert. Unabhängig davon ergeben sich in der Summe in jedem Fall Hinweise darauf, dass das Beben beträchtliche Schäden insbesondere in Kyzikos, aber auch darüber hinaus anrichtete.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das Ausbleiben jeglicher Hinweise auf obrigkeitliche Hilfsmaßnahmen bei Malalas. Solche Hilfen werden für die weit überwiegende Zahl von als katastrophal charakterisierten Ereignissen in der Chronographia in sterotyper Form überliefert. Das Fehlen an der hiesigen Stelle entspricht jedoch einem allgemeinen Trend innerhalb des 18. Buches: Während nach den in Mal. XVIII 19, XVIII 27, XVIII 28, XVIII 37 und XVIII 40 berichteten Katastrophen noch durchgehend über kaiserliche Hilfen informiert wird, bilden entsprechende Hinweise in den späteren Notizen (Mal. XVIII 55, XVIII 77, XVIII 79, XVIII 93, XVIII 112, XVIII 118, XVIII 123, XVIII 124) die Ausnahme - und das, obwohl in Buch 18 insgesamt weitaus mehr Katastrophen Erwähnung finden als in jedem der vorangegangenen Bücher (Meier 2007d, 571f.; Jeffreys 1990b, 155-160). Lediglich Mal. XVIII 112 überliefert noch einmal kaiserliche Hilfsmaßnahmen und fällt dadurch aus diesem Trend heraus. Auffallend ist, dass dieser Rückgang der Erwähnung ökonomischer Unterstützung durch den Kaiser mit der Verwendung eines veränderten, 'neutraler' wirkenden Vokabulars zusammenfällt (XVIII 55, 1; XVIII 93, 2). Diese Koinzidenz deutet auf eine generelle Veränderung der Darstellungs- und/oder Überlieferungsmodi hin, weswegen der Befund nicht als Beleg für eine faktische Abnahme der kaiserlichen Hilfsbereitschaft herangezogen werden sollte. Auch die Möglichkeit, dass relevante Hinweise Opfer des dem Baroccianus-Text zugrundeliegenden Kürzungsprozesses wurden, scheidet im vorliegenden Fall mit einiger Sicherheit aus, da auch in der reichhaltigen sekundären Überlieferung keine entsprechenden Angaben zu finden sind.
2/3 τὸ ἥμισυ τῆς αὐτῆς πόλεως: „die Hälfte der nämlichen Stadt“, mit dem Adjektiv ἥμισυ substantiviert durch den Artikel τό und gefolgt vom Genitiv der zweigeteilten Entität: vgl. für diesen geläufigen Gebrauch des Wortes LSJ s.v. ἥμισυς II 1, mit Belegen. τὸ ἥμισυ + Genitiv kommt in der Malalas-Chronik neben diesem Kapitel noch in fünf anderen Passagen vor: IV 12 τὸ ἥμισυ τῆς χώρας ἐκ τῆς πατρικῆς αὐτῶν βασιλείας; X 2 τὸ ἥμισυ … τοῦ χρόνου τῆς μελλούσης τοῦ Χριστοῦ παρουσίας; XIII 30 τὸ ἥμισυ τοῦ Νιζτίβιος; XVIII 19 τὸ ἥμισυ τῆς πόλεως; XVIII 28 τὸ ἥμισυ τῆς αὐτῆς πόλεως. In den zwei letztgenannten Stellen geht es – wie im vorliegenden Kapitel – um den Untergang bzw. den Einsturz „der halben Stadt“ (Pompeiupolis resp. Laodikeia) infolge eines Erdbebens. τὸ ἥμισυ τῆς (αὐτῆς) πόλεως zählt also zu jenen formelhaften Ausdrücken, die in den Erdbebenberichten der Malalas-Chronik oft begegnen und die zum – berechtigten – Eindruck beitragen, diese Passagen seien sprachlich und strukturell gleichförmig: siehe dazu Jeffreys 1990e, 228 und für ein weiteres Beispiel (ὁ αὐτὸς βασιλεύς … πολλὰ ἐχαρίσατο) XVIII 40, 2f.. Aus diesem Grund sollte die Formel τὸ ἥμισυ τῆς (αὐτῆς) πόλεως (eben qua Formel) als Stütze für konkrete Rekonstruktionsversuche des wahren Ausmaßes der Zerstörung nur mit Vorsicht herangezogen werden: XVIII 93, 2. Nur einmal bleibt ἥμισυ (mit Genitiv) in der Malalas-Chronik Adjektiv, das Substantiv μέρος kommt noch hinzu: Malal. XI 26 τὸ ἥμισυ μέρος τῆς αὐτοῦ περιουσίας. An anderen, davon getrennt zu haltenden Stellen wird ἥμισυ ohne Artikel gebraucht (vgl. die Liste von Thurn 2000, 501 – die letzte dort zitierte Stelle, XVIII 28 [370,90], ist allerdings falsch eingestuft und gehört zur vorangehend besprochenen Kategorie) und bedeutet lediglich „halb“, oft bezogen auf ein halbes Jahr in der Berechnung der Gesamtdauer einer Regierung: vgl. z.B. XII 18; XII 34; XIII 26.
2/6 αὐτῆς: Die Wiederholung des Demonstrativums αὐτός bzw. ὁ αὐτός und die dadurch bewirkte Überdeterminierung der Substantive sind zwei der auffälligsten Merkmale der Sprache der Malalas-Chronik; sie tragen entscheidend dazu bei, ihr ihren charakteristischen bürokratischen Klang zu verleihen: XVIII 22, 2ff., XVIII 40, 3.
Parallelüberlieferung
Griechisch: Meg. Chron. 43 Nr. 11 Schreiner = Nr. 9 Whitby; Theoph. 224,11-13 de Boor; Cedr. 408.2, 10-12 Tartaglia; Zon. III 158, 1-2 Büttner-Wobst Syrisch: Ioann. Eph. 227,13-15 van Douwen/Land; Chronik von Zuqnīn = Ps. Dion. 73 Witakowski; Chronik von Zuqnīn = Ps. Dion. 125 Witakowski; Mich. Syr. 9,31 (I 262 Chabot; S. 364 Moosa)
Literatur
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