Malalas 18.107 1–3 = 61–63 (Thurn)

Inhalt

Kapitel XVIII 107 informiert darüber, dass Papst Vigilius anstelle des Patriarchen Menas an die erste Stelle in den liturgischen Diptychen gesetzt wurde.

Philologisch-Historischer Kommentar
Parallelüberlieferung
Literatur

1 (61)
Καὶ τῷ αὐτῷ χρόνῳ περιῃρέθη τὸ ὄνομα Μηνᾶ τοῦ ἀρχιεπισκό-
 
που ἐκ τῶν ἀγίων διπτύχων καὶ τὸ ὄνομα Βιγιλίου τοῦ πάπα Ῥώμης
 
<πρῶτον ἐλέγετο>.
Philologisch-Historischer Kommentar
1/2 τῷ αὐτῷ χρόνῳ: Zum einfachen Dativus Temporis (ohne ἐν) bei dieser Zeitformel in der Malalas-Chronik XVIII 45, 1.
1/2 τῷ αὐτῷ χρόνῳ: Die insbesondere in der Baroccianus-Version von Malalas verbreitete Formel τῷ αὐτῷ χρόνῳ hat in der Parallelüberlieferung der Fragmenta Tusculana ein wesentlich präziseres Äquivalent, nämlich eine Datierung mit Indiktions- und Monatsangabe: Μηνὶ ἰανουαρίῳ , ἰνδικτιῶνι τρισκαιδεκάθη, Januar der 13. Indiktion (549/50). Diese Indiktion wird bereits in XVIII 106 (O und FT) erwähnt, worauf sich der knappere Rückverweis in O bezieht. Die Datierung des Geschilderten fällt damit auf Januar 550 (vgl. mit diesem Datum Stein 1949, 645, Anm. 3; 1. Januar 550: Leppin 2011a, 297).

Exemplarisch lässt sich an dieser Stelle der dem Codex Baroccianus zugrundeliegende Kürzungsprozess ersehen: Die frühere Version der Fragmenta bietet hier wie in den folgenden Passagen fast durchgehend genaue Indiktionsangaben, also statt allgemeineren Formeln wie ἰνδικτιῶνι τῇ αὐτῇ oder τῷ αὐτῷ χρόνῳ die ausgeschriebenen Angaben ἰνδικτιῶνι τρισκαιδεκάθῃ bzw. τεσσαρισκαιδεκάτῃ, zu denen sich durchgehend Monats- und zuweilen auch Tagesangaben gesellen; diese Daten werden in der späteren Überlieferung verknappt und dadurch z.T. ungenau wiedergegeben.
1/5 περιῃρέθη: Aorist des Verbes περιαιρέω mit Augment, wie üblich bei Verben mit anlautendem Diphthong αι- in der Malalas-Chronik, siehe Merz 1911, 10; vgl. auch XVIII 98, 2 zu καθῃρέθη. Form und Bedeutung des Verbes ('löschen, aufheben', vgl. Thurn 2000, 490 in Index verborum ad res Byzantines spectantium: "περιαιρέω: tollo") sind dieselben wie in Malal. XVIII 85 περιῃρέθη δὲ τῷ αὐτῷ χρόνῳ ἡ τοῦ νυκτεπάρχου ἀρχή.
1/8 Μηνᾶ: Genitiv auf -α (statt auf -ου) des männlichen Eigennamen Μηνᾶς, gebildet nach dem Muster und unter dem Einfluss der 'ausgleichenden' Femininum-Deklination auf -α, die das α durch alle Kasus des Singulars auch bei -α impurum verallgemeinert, siehe die Ausführungen von Wolf 1911, 15–16 mit weiteren Beispielen (eins davon ist πάπα, XVIII 107, 2).
1f./5 περιῃρέθη ... ἐκ τῶν ἀγίων διπτύχων: Der Begriff Diptychon bezeichnet im weitesten Sinne einen "zweiteiligen, zusammenklappbaren Gegenstand"; üblicherweise handelte es sich um entsprechende Tafeln aus Holz, Elfenbein oder Edelmetall (Stegmüller 1957, 1138). In der Kirchenliturgie ist ab dem frühen 4. Jahrhundert der Brauch belegt, auf solchen Tafeln die Namen lebender und verstorbener Christen einzutragen und diese in der Messe zu verlesen. Für die östliche Kirche zeigen die Quellen (für einen Überblick des frühbyzantinischen Materials siehe Taft 1991, 23–59) schon für das frühe 5. Jahrhundert, dass die Frage der Eintragung oder Streichung einzelner Personen in die bzw. aus den Diptychen zum Politikum werden konnte, da die gemeinsame Nennung in dieser Liste die Kommunion mit der aufgeführten Personen signalisierte, wodurch sie als ein zentraler Ausweis der Orthodoxie galt. Entsprechende Akte entwickelten sich somit "zu einem Kampfinstrument der innerkirchlichen Auseinandersetzung" (Stegmüller 1957, 1146).

Den Kontext des hiesigen Falles bilden die Auseinandersetzungen zwischen Patriarchen, Papst und Kaiser im Rahmen des so genannten "Dreikapitelstreites" (XVIII 97, 1f.). Der Text von O gibt den Sachverhalt dabei wohl falsch wieder: Man liest hier, dass sowohl der Name des Menas (Bischof von Konstantinopel) wie der des Vigilius (Papst von Rom) aus den Diptychen (vermutlich der Stadt Konstantinopel) entfernt worden seien; eine kombinierte Lesart der ausführlicheren Parallelüberlieferung in Theophanes und den Fragmenta Tusculana (XVIII 107, 1; XVIII 107, 3) zeigt aber, dass ein solch radikaler Schritt, der aus der historischen Situation heraus schwer zu erklären wäre, nicht getroffen wurde: Hier erscheint für Menas anstelle von περιῃρέθη (löschen, aufheben) das Verb κατεβιβάσθη/προεβιβάσθη (herabsenken), während es von Vigilius heißt, sein Name sei an erste Stelle gerückt worden (πρῶτον ἐλέγετο, der Ausdruck zeigt gut, dass die namentliche Erwähnung in der Messe im Zentrum stand). Keiner der beiden Namen wurde also aus den Diptychen gestrichen, sondern Vigilius wurde lediglich anstelle des Menas an die erste Stelle gesetzt (vgl. auch Stein 1949, 645, Anm. 3; Mango/Scott 1997, 331, Anm. 3; anders Drecoll 2016, 53 der sich an dieser Stelle aber wohl nur auf O stützt). Stein (ebd.) interpretiert das Vertauschen der Namen als Versuch, Vigilius über die Kritik hinwegzutrösten, die dem Papst vonseiten seiner Anhänger entgegenschlug, seit er sich 548 im Dreikapitelstreit der Position des Kaisers angeschlossen hatte; vgl. auch Leppin 2011a, 297 (Dank für Vigilius' Zustimmung?).
1f./8 Μηνᾶ τοῦ ἀρχιεπισκόπου: Zum konstantinopolitanischen Patriarchen Menas XVIII 83, 5.
2/11 πάπα: Zum – insgesamt viermal belegten – α-Genitiv (πάπα) in der Malalas-Chronik XVIII 98, 2. Zu Wortbedeutung und -verwendung an sich: XIV 15, 7. (Florian Battistella)
2f./9 Βιγιλίου τοῦ πάπα Ῥώμης <πρῶτον ἐλέγετο>: Zu Papst Vigilius XVIII 97, 1f..
3/1 <πρῶτον ἐλέγετο>: Diese zwei Wörter sind von Thurn 2000, 411 aus Fragm. Tusc. IV, p. 23 Mai ergänzt worden (siehe zum Problem auch Mais Anmerkung z.St.); sie fehlen in der O-Version der Malalas-Chronik (f. 314) und demzufolge in allen Malalas-Editionen vor Thurn (Chilmead 1691, II, 228; Dindorf 1831, 484). Die Bedeutung der Passage ändert sich durch diese Ergänzung grundlegend: Laut dem Text von O wurden *beide* Namen – Menas und Vigilius – aus den heiligen Diptychen entfernt (dementsprechend lautet die Übersetzung von Jeffreys/Jeffreys/Scott 1986, 290); laut Fragm. Tusc. wurde der Name des Menas "herabgesetzt" (κατεβιβάσθη), derjenige des Vigilius hingegen am ersten Platz vorgelesen. Thurns Annahme, dass Fragm. Tusc. IV (zumindest sinngemäß) an dieser Stelle den Text des Ur-Malalas wiedergibt, könnte Theoph. 227, 3–4 de Boor bestätigen, welcher eine inhaltlich ähnliche (terminologisch jedoch deutlich unterschiedliche) Version der Episode hat (προεβιβάσθη τὸ ὄνομα Βιγιλίου προτασσομένου ἐν τοῖς διπτύχοις) und möglicherweise hier dem Ur-Malalas als Quelle folgt, siehe Mango/Scott 1997, 331 Anm. 3; Rochow 1983, 470; zustimmend zur Ergänzung <πρῶτον ἐλέγετο> äußert sich auch Drecoll 2016, 53 Anm. 58. Der Wortlaut der Stelle in O lässt selbst auf einen Ausfall schließen: Denn wenn die Ursprungsversion tatsächlich von der zeitgleichen Streichung von Menas und Vigilius hätte berichten wollen, erklärt sich nicht, warum das Substantiv ὅνομα zweimal wiederholt wird (es hätte genügt, den Genitiv βιγίλιου auf den Genitiv Μηνᾶ, abhängend vom ersten τὸ ὅνομα, folgen zu lassen).
Parallelüberlieferung
Fragm. Tusc. IV, p. 23 Mai; Theoph. 227, 2–4 de Boor. Der Verweis auf Cedr. 658, 19–20 de Boor [= Cedr. 409.4 Tartaglia] bei Jeffreys/Jeffreys/Scott 1986, 290 (Subtext) ist fehlerhaft: Die zwei Kedrenos-Zeilen beziehen sich auf Malal. XVIII 106 (Elefanten-Episode).
Literatur
Chilmead (1691): Chilmead, Edmund: Johannis Antiocheni cognomento Malalae Historia Chronica … nunc primum edita cum Interpret. & Notis Edm. Chilmeadi …, Oxonii, 1691.
Dindorf (1831): Dindorf, Ludwig: Iohannis Malalae Chronographiae ex recensione L. Dindorfii, Bonn, 1831.
Drecoll (2016): Drecoll, V.: Miaphysitische Tendenzen bei Malalas?, Die Weltchronik des Johannes Malalas. Autor – Werk - Überlieferung, 2016, 45–57.
Jeffreys/Jeffreys/Scott (1986): Jeffreys, Elizabeth/Jeffreys, Michael/Scott, Roger: The Chronicle of John Malalas. A Translation, Melbourne, 1986.
Leppin (2011a): Leppin, Hartmut: Justinian. Das christliche Experiment, Stuttgart, 2011.
Mango/Scott (1997): Mango, Cyril and Scott, Roger: The Chronicle of Theophanes Confessor. Byzantine and Near Eastern History AD 284–813, Oxford, 1997.
Merz (1911): Merz, Ludwig: Zur Flexion des Verbums bei Malalas, Pirmasens, 1911.
Rochow (1983): Rochow, Ilse: Malalas bei Theophanes, Klio, 1983, 459–474.
Stegmüller (1957): Stegmüller, O.: s.v. Diptychon, RAC, 1957, 1138–1150.
Stein (1949): Stein, Ernest: Histoire du Bas-Empire, Tome II. De la disparition de l’Empire d’Occident à la mort de Justinien (476–565), Paris/Bruxelles/Amsterdam, 1949.
Taft (1991): Taft, Robert F.: A History of the Liturgy of St. John Chrysostom Vol. IV: The Diptychs, Rom, 1991.
Thurn (2000): Thurn, Johannes: Ioannis Malalae Chronographia, Berolini et Novi Eboraci, 2000.
Wolf (1911): Wolf, Karl: Studien zur Sprache des Malalas, Tl. 1: Formenlehre, Diss. München, 1911.