Malalas 18.98 1–2 = 35–36 (Thurn)

Inhalt

Kapitel 98 notiert die (vorübergehende) Absetzung des konstantinopolitanischen Patriarchen Menas durch den kurz zuvor in Konstantinopel angelangten (XVIII 97) Papst Vigilius.

Philologisch-Historischer Kommentar
Parallelüberlieferung
Literatur

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Ἐν αὐτῷ δὲ τῷ ἔτει Μηνᾶς ὁ πατριάρχης Κωνσταντινουπόλεως
 
καθῃρέθη ὑπὸ τοῦ πάπα Ῥώμης διά τινας αἰτίας κανονικάς.
Philologisch-Historischer Kommentar
1/1 Ἐν αὐτῷ δὲ τῷ ἔτει: Diese relative Einordnung bezieht sich aller Wahrscheinlichkeit nach auf das Datum der Ankunft des Vigilius in Konstantinopel (in O: Februar 547). Den terminus ante quem liefert ein Unwetter im Juni desselben Jahres (XVIII 103; die Anordnung der Ereignisse bei Malalas folgt allerdings an dieser Stelle keiner strengen chronologischen Abfolge: XVIII 100, 1. Theophanes (225,16–18) berichtet ebenfalls von einer Absetzung des Menas, die er in das Jahr 546/47 einordnet, wobei er sich aber wohl auf ein späteres Ereignis bezieht: zur Diskussion XVIII 98, 2.
1/6 Μηνᾶς ὁ πατριάρχης Κωνσταντινουπόλεως: Zum konstantinopolitanischen Patriarchen Menas XVIII 83, 5.
2/1 καθῃρέθη: Das Verb καθαιρέω funktioniert in der Malalas-Chronik als terminus technicus für 'absetzen (aus einem Amt)', XVIII 83, 2. Es trägt in den Vergangenheitstempora, wie alle Komposita von αἰρέω, fast ausnahmslos das Augment, siehe Merz 1911, 10.
2/1 καθῃρέθη ὑπὸ τοῦ πάπα Ῥώμης διά τινας αἰτίας κανονικάς: Die Absetzung des Patriarchen steht in Zusammenhang mit dem so genannten Dreikapitelstreit, einer durch einen theologischen Traktat Justinians ausgelösten Kontroverse, die mit der Ankunft des Papstes Vigilius in Konstantinopel Anfang 547 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte: XVIII 97, 1f.. Malalas berichtet im Zusammenhang mit diesem Streit v.a. über öffentlichkeitswirksame Ereignisse in der Hauptstadt.

Die Exkommunikation des Patriarchen bereits 547 ist in dieser expliziten Form nur bei Malalas überliefert. Theophanes (225,21–23 de Boor) bietet für das Jahr 546/47 zwar eine ähnliche Information, bezieht sich aber womöglich auf ein anderes Ereignis: Er berichtet über die gegenseitige Absetzung des Vigilius und des Menas sowie die Flucht des Vigilius vor dem Zorn Justinians in die Kirche des Sergios im Hormisdas-Bezirk (wohl die Kirche des Sergios und Bakchos südlich des Hippodroms: XVIII 104, 1). Mango/Scott 1997, 328, Anm. 3 und 4 gehen davon aus, dass hier Ereignisse gemeint sind, die für den Sommer 551 überliefert sind, nämlich die gegenseitige Exkommunikation beider Bischöfe und die zweimalige Flucht des Vigilius ins Kirchenasyl binnen kurzer Zeit: Schwartz 1940b, 315f. mit Quellenbelegen. Theophanes' Details über die Flucht des Vigilius in die Sergios-Kirche entstammen sicher einer späteren Passage aus Malalas, der ein solches Ereignis für Juni 550 berichtet: XVIII 111, 1. Unklar bleibt, woher Theophanes die Informationen über eine zweite, doppelte Exkommunikation haben könnte. Mango/Scott 1997, 328, Anm. 2 vermuten eine kirchenhistorische Quelle; doch ist nicht auszuschließen, dass sie auf Malalas-Passagen zurückgehen, die im Laufe des dem Codex Baroccianus zugrundeliegenden Kürzungsprozesses verloren gegangen sind.

Lippold 1974, 872 äußert Zweifel daran, dass Vigilius Menas tatsächlich gleich bei seiner Ankunft in Konstantinopel erstmals exkommunizierte: Er macht auf den großen zeitlichen Abstand zwischen der ebenfalls bei Malalas überlieferten Rücknahme der Exkommunikation bereits im Juni 547 (XVIII 98) und dem Nachgeben des Vigilius in der übergeordneten Streitfrage (April 548) aufmerksam und weist zudem auf Facund. c. Moc. hin, wo lediglich gesagt wird, dass Vigilius illos qui talibus communicaverant veniens in regiam civitatem a communione suspendit (PL LXVII 862 C–D). Obgleich sich diese Passage in der Tat nur unbestimmt auf Gegner der drei Kapitel bezieht, bestätigt sie doch sicher, dass Vigilius gleich bei seiner Ankunft in Konstantinopel hart gegen Parteigänger Justinians vorging. Der Aussage des Malalas verleiht das eher zusätzliche Plausibilität (siehe auch XVIII 100, 1).

Die Motivation der Absetzung von 547 bleibt in O vage: die αἰτίας κανονικάς meinen allgemein Fragen der Kirchenlehre (XVIII 98, 2), was dem einzig infrage kommenden Grund – der Kontroverse über die Bewertung der drei Kapitel – in etwa entspricht, aber nichts über den Anlass aussagt. Die eigentliche Kontroverse selbst bleibt auch hier ohne konkrete Erwähnung (vgl. Drecoll 2016, 54). Theophanes erklärt, der Papst sei aufgrund der ehrenden Behandlung des Kaisers übermütig geworden. Wenn Mangos und Scotts Rekonstruktion (s.o.) zutrifft, bezöge sich diese Aussage auf die spätere Exkommunikation des Jahres 551.
2/4 πάπα: α-Genitiv (statt ου-Genitiv) des Substantivs πά(π)πας, wie auch noch in Malal. XVIII 107 τοῦ πάπα Ῥώμης, Malal. XVIII 135 τοῦ πάπα Ἀλεξανδρείας und Malal. XVIII 136 τοῦ πάπα Ῥώμης; siehe Wolf 1911, 16 für weitere Beispiele dieser α-Deklination bei Maskulina (neben πάπας sind es allerdings nur Eigennamen) in der Malalas-Chronik. Zu Wortbedeutung und -verwendung: XIV 15, 7. (Laura Carrara)
2/9 κανονικάς: κανονικός ist ursprünglich ein Adjektiv aus dem Wortschatz der Wissenschaft und der Kunst (Grammatik, Medizin, Musik) und bezeichnete das, was der Regel folgt (für die metaphorische, aber gut etablierte Bedeutung 'Regel' für das Substantiv κανών vgl. LSJ s.v. II); siehe für diese Verwendung von κανονικός z.B. Hdn. 3,2, 148, 20 Lentz (aus dem Werk Περὶ Ὀδυσσειακῆς προσῳδίας) ἄνεμος Κικόνεσσι πέλασσεν [Hom. Od. ΙΧ 39]· οὐ κανονικῶς γράφεται διὰ τοῦ ο οἱ Κίκονες κτλ. "'Κίκονες' ist mit οmicron nicht regelkonform geschrieben" (Herodian favorisierte die Schreibweise Κίκωνοϲ).

In christlichen Texten bezeichnet das Adjektiv κανονικός das, was mit der Lehre der/einer Kirche eng übereinstimmt und somit 'regelkonform' ist; darüber hinaus allgemein auch das, was einen Bezug, ein Verhältnis o.ä. zu Fragen der Kirchenlehre hat bzw. was die Kirchenlehre betrifft, siehe GLRBP s.v. κανονικός 3. An vorliegender Stelle kommt diese zweite Bedeutung von κανονικός zum Tragen: Die Gründe für die Absetzung des Menas sind 'kanonisch' in dem Sinne, dass sie Kirchenanliegen betreffen; genau so fasst die Stelle und die Bedeutung von κανονικός auch Drecoll 2016, 53 auf: Menas wird laut Malalas abgesetzt "nicht als Häretiker, sondern wegen kirchenrechtlicher Probleme" (anders Thurn 2000, 487 in "Index verborum ad res Byzantinas spectantium": "κανονικόs: canonicus secundum legem ecclesiasticam 409,36").
Parallelüberlieferung
Theoph. 225, 13–28 de Boor
Literatur
Drecoll (2016): Drecoll, V.: Miaphysitische Tendenzen bei Malalas?, Die Weltchronik des Johannes Malalas. Autor – Werk - Überlieferung, 2016, 45–57.
Lippold (1974): Lippold, A.: Vigilius, RE Suppl., 1974, 864–885.
Mango/Scott (1997): Mango, Cyril and Scott, Roger: The Chronicle of Theophanes Confessor. Byzantine and Near Eastern History AD 284–813, Oxford, 1997.
Merz (1911): Merz, Ludwig: Zur Flexion des Verbums bei Malalas, Pirmasens, 1911.
Schwartz (1940b): Schwartz, E.: Zur Kirchenpolitik Justinians, Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaft, 1940, 32–81.
Thurn (2000): Thurn, Johannes: Ioannis Malalae Chronographia, Berolini et Novi Eboraci, 2000.
Wolf (1911): Wolf, Karl: Studien zur Sprache des Malalas, Tl. 1: Formenlehre, Diss. München, 1911.