Malalas 18.129 1–7 = 82–88 (Thurn)
Kapitel XVIII 129 dreht sich um einen Einfall der Hunnen und Sklavenen (Slawen) in Thrakien. Der vorhandene Text berichtet von der Auseinandersetzung zwischen Römern und Barbaren bis hin zu letzterer Eindringen in den Bereich hinter den "konstantinopolitanischen Mauern", d.h. die unter Anastasius erbauten bzw. fertiggestellten "langen Mauern" in Thrakien. Die Passage bricht im Codex Baroccianus nach einigen Zeilen wegen eines Seitenausfalles ab; Thurn hat die Passage jedoch durch die entsprechende Stelle bei Theophanes (233 de Boor) ergänzt: Thurn 2000, 421f. Dort findet sich für die ersten Zeilen ein mit dem Codex Baroccianus eng verwandter Text. Daran schließen sich bei Theophanes noch umfassende Ausführungen über die Reaktionen des Kaisers sowie die Abwehr der Eindringlinge durch dessen Feldherrn Belisar an. Inwiefern sein Text auf Malalas zurückgeht bleibt aber unsicher.
(Jonas Borsch mit Olivier Gengler)
Philologisch-Historischer Kommentar
Parallelüberlieferung
Literatur
Die drei wichtigsten Quellen zum Kutrigureneinfall von 558/559, die inhaltlich sehr unterschiedliche Schwerpunkte aufweisen, sind kürzlich von Sarantis 2016, 336-348 vergleichend analysiert worden; er sieht die vorliegende Malalas-Passage als wichtiges Korrektiv insbesondere gegenüber der Justinian-feindlichen Darstellung bei Agathias (ebd., 342). Agathias bietet einen ausführlichen, literarisch ausgestalteten Bericht, der das leichte Vordringen der Hunnen maßgeblich auf Fehler des Kaisers beim Grenzschutz zurückführt (V 13,5 - 14,5). Demnach hätten sich die Barbaren in drei Abteilungen gespalten, von denen eine in Richtung Griechenland, eine zur thrakischen Chersonnes und eine weitere gegen Konstantinopel gezogen sei. Nur der heroische Einsatz des aus dem Ruhestand herbeigerufenen Belisar mit einigen seiner Veteranen sowie einem zusammengewürfelten Trupp aus Bauern und anderen Zivilisten habe Byzanz in diesem Moment gerettet (V 15,7 - 16,3, V 19,1, V 20,3; dazu Sarantis 2016, 340f.). Auch mit Blick auf die Kämpfe um die Chersonnes hebt Agathias den Befehlshaber Germanicus lobend hervor (V 21,2). Letztlich habe man die Kutriguren jedoch nur durch Lösegeldzahlungen zum Abzug bewegen können (V 23,7-8). Agathias weiß außerdem von einem durch Rom angestifteten Vergeltungsfeldzug durch die ebenfalls hunnischen Utiguren zu berichten (V 25,1-3). Entsprechende Bemühungen vonseiten Justinians bestätigt auch ein Fragment des Menander Protektor, demzufolge die Utiguren sich jedoch zunächst aufgrund der engen ethnischen Bindungen geweigert hätten, gegen andere Hunnen vorzugehen (Men. Prot. Fr. 2,1). Die im Codex Baroccianus erhaltene Malalas-Version hat eine Kurzfassung der Ereignisse um Konstantinopel, die das Vordringen der hunnischen Gruppen in Thrakien, durch die langen Mauern und bis zur Kirche Stratonikos einschließen, bevor das Manuskript wegen eines Seitenausfalls abbricht. Soweit der deutlich längere Bericht bei Theophanes tatsächlich auf Malalas zurückgeht (oder zumindest auf einen Text des 6. Jh.; zur Diskussion XVIII 129, 6f. ), lässt sich durch ihn das Eingreifen Belisars grundsätzlich bestätigen (wenngleich es als weniger entscheidend bewertet wird). Von Lösegeldzahlungen ist hier genauso wenig die Rede wie von einem Feldzug der Utiguren; wohl aber bezeugt der Text die Verwüstung des konstantinopolitanischen Umlandes durch die Hunnen noch bis in den August hinein, d.h. noch lange nach dem Eingreifen Belisars. Abhilfe hätten demnach erst Grenzbefestigungsmaßnahmen durch den Kaiser geschaffen. Insgesamt lässt Theophanes das kaiserliche Handeln in einem deutlich positiveren Licht erscheinen als Agathias (Theoph. 233,28 - 234,7 de Boor; vgl. Stein 1949, 539f.; Mango/Scott 1997, 342-344; Liebeschuetz 2007, 112; Sarantis 2016, 346).
Beim St Stratonikos handelt es sich um eine Kirche an der Via Egnatia zwischen dem Hebdomon und Rhegion, d.h. wenige Kilometer westlich von Konstantinopel in der Küstenregion des Marmarameeres: Mango 1985, 32f.; Mango/Scott 1997, 343 Anm. 16. Laut Theoph. 231, 22–25 de Boor hatte das Erdbeben von 557 (XVIII 124, 1 ) Rhegion und die dort lokalisierten Kirchen von St. Stratonikos und St. Kallinikos bis zum Fundament zerstört (dazu XVIII 124, 6 ).
In der Version dieses Berichtes bei Theophanes dringen die Angreifer zunächst bis zu den Orten Drypia, Nymphai und Chiton vor, besiegen dann an den langen Mauern eine Abteilung von scholarii, werden jedoch bei Chiton von einem notdürftig zusammengestellten Aufgebot Belisars durch eine List in die Flucht geschlagen und ziehen sich erst von dort aus in die Gegend von St. Stratonikos zurück. Dies alles ordnet Theophanes chronologisch noch vor dem Osterfest (April) ein, d.h. er beschreibt wohl Ereignisse weniger Monate oder Wochen. Der Umstand, dass die Erwähnung der Gegend von St. Stratonikos bei Theophanes erst nach längeren Ausführungen über Kriegshandlungen folgt, erlaubt die Vermutung, dass die Version des Codex Baroccianus an dieser Stelle starke Kürzungen enthält. Der von Thurn ergänzte Theophanes-Text kann, wenn überhaupt, dann erst nach der Erwähnung von St. Stratonikos als Fortsetzung des Malalas-Textes gelesen werden. Welche Bestandteile des weiteren Theophanes-Textes ursprünglich auf den fehlenden Seiten des Codex Baroccianus enthalten waren und inwiefern beide Versionen mit einem etwaigen "Ur-Malalas" korrespondieren, ist letztlich kaum zu klären: Die fehlenden Passagen im Oxforder Codex dürften jedenfalls in ihren Formulierungen deutlich von Theophanes abgewichen sein (XVIII 133, 1 ). Ob beide Versionen auf Malalas selbst, auf einen etwaigen anonymen Fortsetzer oder eine gemeinsamen Quelle zurückgehen, bleibt Spekulation. Als die sicherste Lösung erscheint es hier weiterhin, nur den explizit unter dem Namen Malalas enthaltenen Text im Codex Baroccianus als Teil der Chronographie zu bewerten. (Jonas Borsch, Olivier Gengler mit Lea Niccolai)