Malalas 17.15 1–30 = 62–91 (Thurn)
Dieser Abschnitt, der in der australischen Übersetzung und bei Thurn zu einem Kapitel zusammengefasst ist, enthält hintereinander vier verschiedene Nachrichten über Naturkatastrophen: Geschildert werden Erdbeben in (1) Dyrrhachion (Epiros), (2) Korinth und (3) Anazarbos sowie (4) eine Überflutung in Edessa (Osrhoene). Der letzte Fall wird mit einer im Vergleich deutlich genaueren Beschreibung versehen, die anhand der slawischen Überlieferung ergänzt werden kann; überdies folgen hier noch Ausführungen zu früheren natürlichen Extremereignissen und auf selbige bezogenen Weissagungen am gleichen Ort. Für alle genannten Fälle wird von kaiserlichen Hilfsmaßnahmen berichtet.
Philologisch-Historischer Kommentar
Parallelüberlieferung
Literatur
Der Mangel an konkreten Datierungsformeln in der O-Version von Buch XVII erschwert alle Versuche, die Ereignisse näher zeitlich einzuordnen. Zwar bieten Theophanes und andere spätere Autoren z.T. sehr präzise Daten, doch divergieren diese untereinander zuweilen erheblich; ihre Reihung der einzelnen Begebenheiten unterscheidet sich zudem häufig stark von derjenigen, die in O überliefert wird – den allgemeinen Verschiebungstendenzen in der byzantinischen Chronistik entsprechend. Die Orientierung an den bei Theophanes gegebenen Daten in Guidoboni/Comastri/Traina 1994, 313f. (vgl. Ambraseys 2009, 181-183) ist daher in keiner Weise zwingend. (Jonas Borsch)
Details zum Ausmaß der Zerstörungen fehlen ganz. Vgl. jedoch Procop. aed. II 7,5, wo der Einsturz eines großen Teiles der Stadtmauer, die Überschwemmung nahezu der gesamten Stadt und daraus resultierend enorme Schäden spezifiziert werden; Ps.-Dion. 42–43 mit Ausführungen zum sukzessiven Brechen der Stadtmauer durch den Druck der Wassermassen, die in der Folge die Stadt gefüllt hätten; ferner Ps.-Zach. XVIII 4, Mich. Syr. IX 12 und Chron. Edess. 9 Guidi/128 Hallier, jeweils mit Erwähnung der Stadtmauer. Auch die Hauptkirche der Stadt, die Hagia Sophia, scheint durch das Hochwasser zerstört worden zu sein; so jedenfalls suggeriert es Procop. aed. II 7,6, der ihren Wiederaufbau durch Justinian verzeichnet; vgl. Mich. Syr. IX 29, dem zufolge die Kirche in den 550er-Jahren durch den Edessener Bischof Amazonios neu geweiht wurde, sowie einen anlässlich der Weihung kompilierten syrischen Hymnos (dazu Palmer/Rodley 1988, 121f. Anm. 2 und Meier 2004a, 393 Anm. 260 mit Überblick über die umfassende Literatur).
Die Konsequenzen für die Bewohner werden abermals besonders ausführlich in Ps.-Dion. (42) dargestellt, wo u.a. vom Eindringen des Wassers in das Bad der Stadt zu lesen ist, in dessen Folge zahlreiche Menschen zu Tode gekommen seien. Laut Procop. aed. II 7,5 kam ein Drittel der Einwohner Edessas bei dem Hochwasser ums Leben. Die Zahl von 30.000 Opfern bei Segal 1970, 156 entstammt einem späten Zeugnis (El. Nisib. 119 Chabot/57 Brooks). (Jonas Borsch)
Das hier fragliche Ereignis findet im Chronicon Edessenum ebenfalls Erwähnung (9 Guidi/128 Hallier); analog zu Malalas' Erdbebenzählungen (XVII 16, 2f. ) wird es dort als das vierte Hochwasser in der Geschichte Edessas bezeichnet. Auch die drei vorangegangenen Hochwasser kommen zur Darstellung, angefangen mit einem Ereignis des Jahres 201/202, das verheerende Auswirkungen gehabt zu haben scheint und dessen Darstellung die Chronik programmatisch eröffnet (84–88 Hallier). Es war also früher durchaus schon zu zerstörerischen Überflutungen gekommen. Die hiesige Aussage der anonymen Edessener (die Stadt war bereits früher einmal überflutet worden, wobei aber keine vergleichbaren Zerstörungen angerichtet worden waren) steht dazu nicht zwingend im Widerspruch: Sie bezieht sich auf ein konkretes früheres Ereignis, das in der Erinnerung scheinbar noch besonders präsent war. Wenn es sich hier tatsächlich um eine mündliche Auskunft handelt, dann war dieses Ereignis noch Teil des "living memory". Der von Thurn als wörtliche Rede verstandene Zusatz ("'For we have learned', they said, 'that the same thing has happened on other occasions'", Übers. Jeffreys/Jeffreys/Scott 1986, 237; vgl. hingegen ohne wörtliche Rede Thurn/Meier 2009, 432) deutet auf indirekte Rezeption hin und bezieht sich allgemeiner auf frühere Zeiten; er könnte daher als Anspielung auf die weiter zurückliegenden (womöglich auch in der edessenischen Chronistik überlieferten) Fälle zu verstehen sein. (Jonas Borsch)
Der Name Edessa ist zweifelsfrei bereits makedonischen Ursprunges (s. Appian, Syriaca, 297–298) und wurde wegen der Ähnlichkeit des Ortes mit dem von Edessa in Makedonien gewählt (Steph. Byz. V 13,1–2, s.v. Ἔδεσσα: Ἔδεσσα· πόλις Συρίας. διὰ τὴν τῶν ὑδάτων ῥύμην οὕτω κληθεῖσα, ἀπὸ τῆς ἐν Μακεδονίᾳ). Es scheint daher wahrscheinlich, dass die Stadt den Namen Edessa erhielt, als die Verbindungen zu Mazedonien noch stark waren, d.h. bei ihrer Gründung durch Seleukos, während der Name Antiochia möglicherweise erst später in der Seleukidenzeit vergeben wurde. Auch die Tatsache, dass das hier angegebene Epitheton μιξοβάρβαρος im Gegensatz zu Καλλιρρόη in keiner anderen Quelle zu finden ist, macht misstrauisch. Der Begriff μιξοβάρβαρος selbst, wahrscheinlich abwertend, sieht eher nach einem populären Spitzname als nach einem offiziellen Name aus. Der Nachweis der Chronographia ist daher nützlich, um die Identifizierung von Edessa mit Antiochia Kallirhoe zu bestätigen, aber er sollte vielleicht nicht für bare Münze genommen werden.
Man kann darüber hinaus sehen, dass die Zeugnisse nur von Forschern des 19. Jahrhunderts erwähnt werden. Nach Droysen 1878, III/2, 208–209, 303, 312, sei Edessa unter Seleukos I. in Antiochia umbenannt worden, wäre die Stadt Antiochia Kallirhoe von Antiochos IV. und Steph. Byz. eine weitere Stadt und der Passus bei Plinius wie folgt zu verstehen: „Edessa Kallirhoe war (...) der Name der Stadt, und zwar der spätere keinesweges aber, (...) Antiocheia an der Kallirhoe“; schließlich vermutet er, „daß Edessa bereits von Alexander gegründet worden, daß etwa in ihrer nächsten Nähe die μιξοβάρβαρος von Seleukos hinzugebaut, diese aber allmählich in jene aufgenommen, die Doppelstadt in dem gemeinsamten Namen Edessa zusammengefasst ist“. Babelon 1890, CII-CIII, zitiert zwar auch den Passus der Chronographia, stellt aber merkwürdigerweise fest, dass nichts die Hypothese von Droysen rechtfertigt ("rien ne justifie cette hypothèse"). Für Babelon lässt sich mit Malalas die Behauptung begründen, dass Edessa einst Antiochia hieß, aber er geht weder auf den Begriff μιξοβάρβαρος ein noch darauf, dass Malalas diese Bezeichnung mit Seleukos I. verbindet. Die Stadt hätte ihren Namen geändert, als eine Militärkolonie gegründet wurde, wahrscheinlich unter Antiochus IV., und den Namen Edessa nach dem Tod von Antiochus IV. angenommen (Babelon 1890, CII-III, Babelon 1892, 352). Diese Version wird grosso modo von neueren Autoren aufgegriffen, die nicht einmal mehr die Chronographia zitieren. Nach Segal 1970, 6, und Drijvers 1980, 9–10, wurde die Stadt von Seleukos I. Edessa genannt, nahm dann den Namen Antiochia Kallirrhoe an, als sie eine antiochenische Kolonie erhielt, vor oder unter Antiochus IV. und nahm dann wieder den Namen Edessa an. (Brendan Osswald mit Jonas Borsch)