Malalas 17.6 1–8 = 33–40 (Thurn)

Inhalt

Mal. XVII 6 informiert über die Vertreibung des miaphysitischen Patriarchen Severos von seinem Bischofssitz in Antiochia und seine Ablösung durch Paulos, einen Chalkedonier. Paulos' Entscheidung, die Bischöfe des Konzils von Chalkedon in die Kirchendiptychen des Patriarchates einzutragen, sorgt für theologische Verwerfungen. Lit.: Fedalto 1988 II, 683; Menze 2008, 43--55; Kötter 2013, 238.

Philologisch-Historischer Kommentar
Parallelüberlieferung
Literatur

1 (33)
Τῷ δὲ πρώτῳ ἔτει τῆς βασιλείας αὐτοῦ ἔφυγεν Σέβηρος ὁ πα-
 
τριάρχης Ἀντιοχείας εἰς Αἴγυπτον, φοβηθεὶς Βιταλιανόν· καὶ ἐγένετο
 
ἀντ’ αὐτοῦ Παῦλος πατριάρχης [ἐν τῇ Ἀντιοχείᾳ] ὁ ἀπὸ ξενοδόχων
 
[Κωνσταντινουπόλεως] τῶν Εὐβούλου. ὅστις τοὺς τῆς συνόδου Χαλκηδό-
5 (37)
νος ἑξακοσίους τριάκοντα ἐπισκόπους ἐνέταξε τοῖς διπτύχοις τῶν ἐκκλη-
 
σιῶν ἑκάστης πόλεως· καὶ διὰ τοῦτο ἐγένετο σχίσμα μέγα, καὶ οὐκ ἐκοι-
 
νώνουν αὐτῷ πολλοί, λέγοντες, ὅτι οἱ τῆς συνόδου ἀκολουθοῦντες τὰ
 
Νεστορίου φρονοῦσιν.
Philologisch-Historischer Kommentar
1/1 Τῷ δὲ πρώτῳ ἔτει τῆς βασιλείας αὐτοῦ: Die Datierung gleich an den Beginn von Justins Regierungszeit wird in anderen Quellen wiederholt: Vgl. Evagr. HE IV 4; Theoph. 165 (AM 6011 = 1. Regierungsjahr Justins). Die Passage schließt inhaltlich nahtlos an den vorherigen Abschnitt an; die Flucht des Severos erscheint somit eindeutig (explizit: XVII 6, 2) als Konsequenz von Justins Versöhnung mit Vitalian. Über die Zeitangabe (τῷ πρώτῳ ἔτει) wird dieser Abschnitt aber dennoch sprachlich eindeutig abgesetzt vom vorangehenden. (Olivier Gengler)
2/5 φοβηθεὶς Βιταλιανόν: Dass Severos spezifisch vor Vitalian (PLRE II (Vitalianus 2), 1171–1176) floh, wird in der Parallelüberlieferung vielfach bestätigt. Severos hatte die Niederlage des Usurpators gegen Anastasios in einer Homilie und einem Hymnos gefeiert, was es offenbar allgemein plausibel erscheinen ließ, dass es der chalkedonisch orientierte Feldherr war, der nach seiner Rückberufung in Amt und Würden (XVII 5, 1) die Verfolgung des Severos betrieb (Honigmann 1951, 143). Auch der angebliche Befehl, Severos die Zunge herauszuschneiden, soll auf Vitalian zurückgegangen sein: Vgl. Evagr. HE IV; Ps.-Zach. VIII 2. Zum Verhältnis von Severos und Vitalian: Allen/Hayward 2004, 19.

Laut Blaudeau 2006a, 249f. war Vitalians persönliche Feindseligkeit gegenüber Severos sicherlich ein wichtiger Faktor für seine Absetzung. Indem der Chronist es jedoch sorgfältig vermeidet, die chalkedonische Ausrichtung des neuen Kaisers Justin zu erwähnen, verschleiert der Autor einmal mehr die Bedeutung der Kontroverse um das Konzil von Chalkedon (XVI 16, 1). (Jonas Borsch)
3/5 [_ἐν τῇ Ἀντιοχείᾳ_]: Aufgrund des Textbefundes in der slawischen Überlieferung von Thurn 2000, 338 im griechischen Text rekonstruiert. Allerdings scheint dieser Zusatz nicht zwingend zu sein. Das Zielpublikum des slawischen Textes wird zweifelsohne dieser Erläuterung bedurft haben. Es ist jedoch nicht sicher, dass auch das Zielpublikum des Baroccianus oder seiner Vorlage(n) jemals eine solche Erläuterung brauchte. (Florian Battistella mit Olivier Gengler)
3/10 ξενοδόχων Κωνσταντινουπόλεως τῶν Εὐβούλου: Ein Xenon (ursprünglich ein Gästehaus bezeichnend, später auch eine Pflegeeinrichtung bzw. Hospital: XVIII 48, 1f.) dieses Namens ist in Konstantinopel belegt. Der Bau befand sich nordöstlich der Hagia Sophia: Janin 1964, 348, vgl. Chron. Pasch. I 622. Pseudo-Kodinos (Preger III, 254) datiert die Einrichtung des Xenon unter Justin; Malalas' Angabe, nach der Paulos vor seiner Weihung zum Patriarchen von Antiochia hier Vorsteher (ξενοδόχος: XVIII 11, 2) gewesen war, eröffnet jedoch die Möglichkeit, dass es schon früher bestand. Im Nika-Aufstand 532 brannte der Bau nieder, ist allerdings später wieder bezeugt; er wurde also offenbar neu errichtet: Janin 1953, 571.

Wenn Thurn 2000, 338 aus der kirchenslawischen Malalas-Tradition Κωνσταντινουπόλεως ergänzt, so kann dies angesichts der Existenz eines solchen Xenons in Konstantinopel gerechtfertigt erscheinen. Allerdings wird dieser Zusatz für das Zielpublikum der slawischen Überlieferung eine erforderliche Erläuterung gewesen sein. Dem Zielpublikum des Codex Baroccianus oder vielleicht auch schon seiner Vorstufe(n) dürfte die Existenz des Xenons in Konstantinopel hinreichend bekannt gewesen sein. (Jonas Borsch)
3f./3 Παῦλος: Die Entscheidung Justins, den Priester und bisherigen bzw. ehemaligen Vorsteher des Euboulos-Xenon in Konstantinopel, Paulos, zum neuen Patriarchen zu bestimmen, wurde dadurch befördert, dass er päpstliche Anerkennung genoss (vgl. Coll. Avell. 216); auch seine mit seinem bisherigen Posten zusammenhängende administrative Erfahrung könnte ihn als neuen Kopf des finanziell angeschlagenen Patriarchats qualifiziert haben: Menze 2008, 48; Brimioulle 2020, 97f. Als Starthilfe erhielt Antiochia in diesem Zuge eine Finanzspritze von tausend Goldpfund (Theoph. 165, 19–20 de Boor). Laut Evagr. HE IV 4 wurde Paulos mit dem expliziten Auftrag ausgestattet, das Konzil von Chalkedon öffentlich zu verkünden, was er, wie Malalas zu entnehmen ist, auch tat (dazu XVII 6, 4ff.). Seine Amtszeit war dennoch von geringem Erfolg gekrönt, da er das zerrissene Patriarchat nicht unter chalkedonischem Banner einen konnte. Keine zwei Jahre nach seinem Antritt musste er daher wieder abtreten und scheint wenig später verstorben zu sein: XVII 11, 1. In der miaphysitischen Tradition entwickelte er sich unter dem wenig schmeichlerich gemeinten Beinamen "der Jude" zu einer zentralen Hassfigur. Zu Paulos vgl. Vasiliev 1950, 235f., Downey 1961, 516f., Gray 1979, 47f.; Menze 2008, 48–55; Brimioulle 2020, 97-100. (Jonas Borsch)
4ff./4 ὅστις τοὺς τῆς συνόδου Χαλκηδόνος ἑξακοσίους τριάκοντα ἐπισκόπους ἐνέταξε τοῖς διπτύχοις τῶν ἐκκλησιῶν ἑκάστης πόλεως: Die Synode von Chalkedon (vgl. Kap. XIV 30), die hier angesprochen wird, hatte ein vielschichtiges Nachleben. Zu einer eindeutigen Kanonisierung der Erinnerung an die strittige Synode war es weder aufseiten ihrer Befürworter noch ihrer Gegner gekommen: Menze 2018. Die Chronographia bietet hier einen seltenen expliziten Rückbezug auf die Synode (vgl. abseits dessen noch XVIII 64, wo es - wie hier - um Geschehnisse in Antiochia geht). Die Eintragung der Namen der chalkedonischen Bischöfe in die Kirchendiptychen des Patriarchats stellte dabei einen religionspolitischen Akt ersten Ranges dar, wenngleich auf lokaler Ebene (XVIII 107, 1f.). Die Aussage, dass diese Maßnahme zu theologischen Verwerfungen führte, erscheint insofern durchaus glaubhaft und findet Bestätigung in der weiteren Überlieferung zu Paulos (XVII 6, 3f.), der sich keine zwei Jahre nach seiner Einsetzung wieder vom Episkopat zurückziehen musste, weil es ihm an Unterstützung fehlte: XVII 11, 1.

Bei der sicher übertriebenen Zahl von 630 teilnehmenden Bischöfen (schon in XIV 30 angegeben, XIV 30, 2) handelt es sich um eines der feststehenden Elemente der pro-chalkedonischen Erzählung des Konzils. S. dazu Textes Monophysites 205 Nau mit Menze 2018, 134; die Zahl findet sich auch in Justinians theologischen Schriften: Epistula ad Synodum... (533) 154,23 und Constitutio contra Anthimum... (536) 48,17 Amelotti/Zingale. Die wiederholte Verwendung dieser Ziffer lässt sich in der vieldiskutierten Frage um eine mögliche miaphysitische Ausrichtung der Chronographia insofern womöglich als Gegenindiz heranziehen: Menze 2018, 135. Vgl. zur Diskussion zuletzt Blaudeau 2006a, der in Malalas einen heimlichen Miaphysiten sieht; weitere Einordnung bei Scott 2013; contra Drecoll 2016. S. zu der Frage auch Alpi 2006, der hervorhebt, dass bei Malalas auch mit Blick auf kirchenpolitische Auseinandersetzungen die kaiserlich-offizielle Perspektive im Vordergrund steht, der allerdings auch eine gewisse Sympathie für Severos diagnostiziert (239–242). (Jonas Borsch mit Olivier Gengler)
6/4 καὶ διὰ τοῦτο ἐγένετο σχίσμα μέγα ... τὰ Νεστορίου φρονοῦσιν: Die direkte Behandlung von theologischen Fragen kommt in der O-Fassung der Chronographia selten vor. Dies zeigt sich auch in der Verwendung von einigen Wörtern, die sonst im Werk kaum bzw. nie mit der hier gemeinten Bedeutung belegt sind: σχίσμα (sonst nur VII 5,21), κοινωνέω (sonst nur XVIII 64,1 im ähnlichen Kontext), φρονέω (nur hier im Sinn von "der Sichtweise von jemandem zustimmen" mit τὰ + Gen.: LSJ s.v. II 2 c, schon in klassischer Zeit gut belegt). (Olivier Gengler)
6/8 σχίσμα μέγα: Der Ausdruck kommt in der Chronographia sonst nur noch in VII 5,21 vor, wo die Teilung der römischen Gesellschaft nach Zugehörigkeit zu verschiedenen Zirkusfaktionen direkt nach dern Erschaffung durch Romulus als ein μέγα σχίσμα dargestellt wird. Auch wenn die Angehörigkeit zu bestimmten Faktionen nicht an bestimmte religiöse Neigungen (chalkedonisch oder miaphysitisch) geknüpft war (s. Cameron 1976, 126–153), scheint die Verwendung von gleichen Wörtern in beiden Kontexten und nur an diesen Stellen zu zeigen, dass der Verfasser zumindest implizit die größten Spannungsfelder der Gesellschaft seiner Zeit vergleicht. (Olivier Gengler)
Parallelüberlieferung
RKOR 399; Thurn 2000, 338; Alpi 2009, 51-52, Anm. 169-171 Theoph. 165,13–18 de Boor; Ioann. Nic. LXXXX, 7–9; Euagr. 4,4 (154,22 – 155,17); Cedr. 637,17–20 Bekker; Chron. Zuqnin, s.a. 831; Xanth. Hist. Eccl., PG 147,XVII,2, 221B–224A; Liberat. 19; Zon. 3,146,7–13; Chron. Edessen., LXXXVII; Leont. Byz V = 1229C; Chron. ad 724, 111; Eutych. Alex. §144, 1065C = §249, 84-85; Ps. Zach, VIII,5a, 298-299; Joh. Vita Severi II 248; Vict. Tunn. s.a. 524; Joh. Ephes. I,41, 35; Hist. nest. 139, 141; Chron. ad 846 169; Liberatus §19, 133,26–134,7; Chron. synt. 76,47–48. Die meisten Quellen zu Severos sind in Kugener 1907 versammelt.
Literatur
Allen/Hayward (2004): Allen, Pauline; Hayward, C.T.R.: Severus of Antioch, London/New York, 2004.
Alpi (2009): Alpi, Frédéric: La Route Royale. Sévère d'Antioche et les Églises d'Orient (512-518), 2009.
Blaudeau (2006a): Blaudeau, Ph.: Ordre religieux et ordre public: observations sur l’histoire de l’Église post-chalcédonienne d’après le témoignage de Jean Malalas, Recherches sur la Chronique de Jean Malalas II, 2006, 243–256.
Brock/Fitzgerald (2013): Brock, Sebastian; Fitzgerald, Brian: Two Early Lives of Severos, Patriarch of Antioch, Liverpool, 2013.
Cameron (1976): Cameron, Alan: Circus factions: Blues and Greens at Rome and Byzantium, Oxford, 1976.
D'Alton/Youssef (2016): D'Alton, John; Youssef, Youhanna: Severus of Antioch, Leiden, 2016.
Downey (1961): Downey, Glanville: A history of Antioch in Syria from Seleucus to the Arab Conquest, Princeton, 1961.
Drecoll (2016): Drecoll, V.: Miaphysitische Tendenzen bei Malalas?, Die Weltchronik des Johannes Malalas. Autor – Werk - Überlieferung, 2016, 45–57.
Gray (1979): Gray, Patrick T. R.: The Defense of Chalcedon in the East (451-553), Leiden, 1979.
Honigmann (1951): Honigmann, Ernest: Évêques et évêchés monophysites d’Asie antérieure au VIe siècle (Corpus Scriptorum Christianorum Orientalium, vol. 127; Subsidia, tome 2), Louvain, 1951.
Janin (1953): Janin, R.: Les églises et les monastères, Paris, 1953.
Janin (1964): Janin, Raymond: Constantinople byzantine: développement urbain et répertoire topographique, Paris, 1964.
Jeffreys (1990b): Jeffreys, Elizabeth: Chronological structures in Malalas’ chronicle, Jeffreys, Elisabeth/Croke, Brian/Scott, Roger, Studies in John Malalas, 6, Sydney 1990, 111–166.
Kugener (1907): Kugener, M.-A.: Sévère Patriarche d'Antioche 512-518, 1907, 1-115, 199-400.
Maraval (2001b): Pierre Maraval: Die Rezeption des Chalcedonense im Osten des Reiches, Luce Pietri, III, Freiburg, Basel, Wien 2001, 120-157.
Menze (2008): Menze, V.: Justinian and the making of the Syrian Orthodox Church, Oxford, 2008.
Menze (2018): Menze, Volker: Johannes Malalas, die Rezeption des Konzils von Chalkedon und die christlichen milieux de mémoire im 6. Jahrhundert, Die Weltchronik des Johannes Malalas im Kontext spätantiker Memorialkultur, 2018, 133–151.
Scott (2013): Scott, Roger: The Treatment of Religion in Sixth-Century Byzantine Historians and some Questions of Religious Affiliation, Between Personal and Institutional Religion. Self, Doctrine, and Practice in Late Antique Eastern Christianity, 2013, 195–225.
Stein (1949): Stein, Ernest: Histoire du Bas-Empire, Tome II. De la disparition de l’Empire d’Occident à la mort de Justinien (476–565), Paris/Bruxelles/Amsterdam, 1949.
VanRoey (1973): Albert van Roey: Les débuts de l'Église jacobite., A. Grillmeier, H. Bacht, II. Entscheidung um Chalkedon, Würzburg 1973, 339 360.
Vasiliev (1950): Vasiliev, Alexander A.: Justin the First. An Introduction to the Epoch of Justinian the Great (Dumbarton Oaks Studies l), Cambridge, MA, 1950.