Malalas 18.125 1–2 = 67–68 (Thurn)

Inhalt

Kapitel XVIII 125 bietet in der durch O erhaltenen Version eine kurze Notiz über das Auftreten einer aufsehenerregenden Gruppe von Awaren in Konstantinopel. Aus der Parallelüberlieferung wird ersichtlich, dass v.a. das Äußere der Gäste – insbesondere die geflochtene Haartracht – die Bewohner von Konstantinopel in Staunen versetzte.

Philologisch-Historischer Kommentar
Parallelüberlieferung
Literatur

1 (67)
Καὶ τῷ αὐτῷ χρόνῳ εἰσῆλθεν ἐν Κωνσταντινουπόλει ἔθνος
 
Οὕννων παράξενον τῶν λεγομένων Ἀβάρων.
Philologisch-Historischer Kommentar
1/1 Καὶ τῷ αὐτῷ χρόνῳ: Die relative chronologische Angabe (zur Zeitangabe durch diese Formel : XVIII 45, 1) bezieht sich auf die Datumsangabe im vorangegangenen Kapitel XVIII 124, wo der Dezember der 6. Indiktion (Dezember 557) angegeben wird (Theoph. 231, 15 ergänzt dort den 14. als Tag: XVIII 124, 1). Das nächste in O überlieferte fixe Datum ist der Februar derselben Indiktion (Februar 558). Die Einordnung der Episode in das Jahr 557/58 sowie zwischen Dezember und Februar wird bei Theoph. 232,6–14 de Boor bestätigt. Es ist somit davon auszugehen, dass der Besuch der Awaren in Konstantinopel in den Winter 557/58 fällt. Mit Datierung auf Januar 558 Stein 1949, 542 mit Anm. 2; vgl. Pohl 1988, 18 mit 339, Anm. 1 (contra Blockley 1985b, 252f., Anm. 19); auf 558: Pallas-Brown 2000, 315; Winter 557/58: Sarantis 2016, 333. (Jonas Borsch mit Laura Carrara)
1/6 ἐν Κωνσταντινουπόλει: Ortsbestimmungen mit ἐν + Dativ an Stellen, wo man klassisch Richtungsangaben mit εἰς + Akkusativ erwarten würde, d.h. nach geläufigen Verben der Bewegung ('gehen (nach)', 'schicken/geschickt werden (nach)' usw. – hier εἰσῆλθεν), finden sich sehr oft in der O-Version der Malalas-Chronik, XVIII 43, 2f..

Zur Alternanz der Benennungen 'Konstantinopel' und 'Byzanz' für die Hauptstadt des oströmischen Reiches in der Malalas-Chronik, insbesondere in Buch XVIII, und zu den möglichen Implikationen dieser Varianz bezüglich der Verfasserfrage bzw. Genese des finalen Teiles dieses Buches XVIII 77, 1.
(Laura Carrara)
1f./8 ἔθνος Οὕννων ... τῶν λεγομένων Ἀβάρων: Malalas bezieht sich hier auf die Awaren (von ihm zunächst mit dem unscharfen Sammelbegriff Hunnen bezeichnet; zu dieser bei Malalas regelmäßig begegnenden Vereinfachung XVIII 21, 1ff., XVIII 129, 1), die erstmals in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts in den oströmischen Quellen begegnen (vgl. Prisk. Fr. 40 Blockley). In engeren Kontakt mit Byzanz traten die Awaren Mitte des 6. Jahrhunderts, wofür die hiesige Notiz mitsamt der Parallelüberlieferung ein wichtiges Zeugnis bildet, da es sich um die erste überlieferte Anwesenheit einer awarischen Abordnung in Konstantinopel überhaupt handelt. 557 war eine große awarische Gruppierung (die Quellen sprechen von 20.000 Mann, vgl. Pohl 1988, 37) im Nordkaukasus angelangt, möglicherweise nachdem sie sich in der zentralasiatischen Steppe dem Zugriff der Göktürken entzogen hatte (Pohl 1988, 27–31). Von dort aus hatte man Verhandlungen mit Ostrom aufgenommen, wie Men. Prot. Fr. 5 Blockley berichtet. Menander zufolge (Fr. 5,1) war der Kontakt über die im Nordkaukasus ansässigen Alanen und den Statthalter von Lazika Justin zustande gekommen. Die awarischen Gesandten, angeführt von einem gewissen Kandich (Κανδίχ), seien in Konstantinopel außerordentlich selbstbewusst aufgetreten und hätten dem Kaiser im Austausch gegen Geschenke, jährliche Zahlungen und Landzuweisungen ihren Schutz angeboten. Diese Allianz wurde tatsächlich geschmiedet (Fr. 5,2), wenn auch bei Menander nur von der Übergabe von Geschenken und nicht von weiteren römischen Zugeständnissen die Rede ist. In den folgenden Jahrzehnten traten die Awaren im nördlichen Schwarzmeerraum sowie nördlich der Donau einen raschen Siegeszug an; sie erlangten schließlich zunächst die Kontrolle über Pannonien, 582 dann über Sirmium und Teile des Nordbalkans, von wo aus sie Byzanz außerordentlich gefährlich wurden, mit dem Höhepunkt der Belagerung Konstantinopels im Jahr 626. Zur Geschichte der Awaren grundlegend Pohl 1988; knapper Pohl 2002; zur Wahrnehmung in den oströmischen Quellen Pallas-Brown 2000; zu den ersten Verhandlungen mit Ostrom und ihren Folgen außerdem Stein 1949, 541–545; Sarantis 2016, 333–336.

Die hier geschilderte Episode gehört mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Kontext der bei Menander Protektor erwähnten diplomatischen Mission und legt diese damit zeitlich auf 557/58 fest (vgl. bereits Stein 1949, 541f.; ferner Pohl 1988, 18; Sarantis 2016, 333f., zum Datum XVIII 125, 1). Auf die Zusammenhänge wird jedoch in der knappen Version in O gar nicht eingegangen. Die Verbindung ergibt sich erst aus Theoph. 232,11–13, wo spezifiziert wird, die Besucher seien als "Flüchtlinge" (φυγόντες) gekommen, mit der Bitte an den Kaiser, sie aufzunehmen (δεχθῆναι αὐτούς). Dieses Anliegen deckt sich mit der bei Menander erwähnten Bitte um Ländereien, auch wenn der Ton bei Theophanes weitaus devoter anmutet.

Die ungewöhnliche Erscheinung bleibt in O das einzige Spezifikum, das den Gästen zugeschrieben wird; dem entspricht auch der Schwerpunkt der vermutlich von Malalas abhängigen, weit ausführlicheren Theophanes-Version, wo insbesondere die geflochtene Haartracht hervorgehoben wird (dazu XVIII 125, 2). Die langen Haare, die als Merkmal der Awaren auch anderswo begegnen, charakterisieren im griechisch-römischen Bereich gesellschaftliche Außenseiter: Pallas-Brown 2000, 315f. Theophanes' Hinweis auf das Staunen der Stadtbewohner (ὡς μηδέποτε ἑωρακότες τοιοῦτον ἔθνος, "so ein Volk war ihnen ja noch nicht zu Gesicht gekommen", Theoph. 232,8, Übers. Thurn/Meier 2009, 519, Anm. 690) bestätigt, dass man die Erscheinung der Awaren sogar im Vergleich zu anderen Barbaren für ungewöhnlich hielt. Bei Agathias (I 3,4) kippt diese Wahrnehmung ins Pejorative, wenn er die Haare der Awaren als besonders schmutzig beschreibt (die der Franken werden als sauber beschrieben , vgl. Pallas-Brown 2000, 316). Die von Malalas und insbesondere Theophanes geschilderte Situation – das Volk von Konstantinopel strömt staunend herbei – lässt an eine Art feierlichen Einzug der Awaren denken. Das streng geregelte Empfangszeremoniell für auswärtige Botschafter, das sich im Zeremonienbuch des Konstantin Porphyrogennetos zumindest für den Fall der persischen Botschafter erhalten hat (Konst. Porphyr. de cer. I 89), gibt darüber keine Auskunft. Die Gelegenheit für die Stadtbevölkerung, die auswärtigen Gesandtschaften, die wegen Spionagegefahr in ihrer Freiheit stark eingeschränkt wurden (Nechaeva 2014, 42), zu Gesicht zu bekommen, dürfte sich aber wohl am ehesten jeweils am Tag einer Audienz ergeben haben, wenn die Gäste von ihrer Unterkunft (im Falle der Perser Chalkedon) zum feierlichen Empfang in den Palast geleitet wurden.

Menanders Kritik an Justinians diplomatischer Strategie (Fr. 5,1, vgl. Sarantis 2016, 335) wird weder bei Malalas noch bei Theophanes erkennbar. Die Awaren geben ein außergewöhnliches Bild ab; doch anders als bei Menander wird nicht auf später von ihnen ausgehende Gefahren angespielt; sie erscheinen nur als sich dem Kaiser andienende Flüchtlinge. Die Darstellung deutet hier also weder auf eine besonders enge Kenntnis der diplomatischen Vorgänge noch auf eine retrospektive Einordnung und Analyse hin – es handelt sich um ein wunderliches Spektakel, ähnlich etwa dem Auftreten eines indischen Gesandten mit Elefanten einige Jahre früher (Malal. XVIII 106). (Jonas Borsch)
2/1 Οὕννων: Οὕννων mit Spiritus asper (vgl. Latein Hunni), wie bereits von Chilmead 1691, II, 234 und Dindorf 1831, 489 in ihren Malalas-Ausgaben richtig gelesen; nicht Οὕννων mit Spiritus lenis, wie irrtümlich auf der Handschrift O (f. 317) überliefert. (Laura Carrara)
2/2 παράξενον: Gemessen an dessen Seltenheit in der gesamten griechischen Literatur von der homerischen/archaischen bis zur spätantiken/frühbyzantinischen Epoche kommt das Adjektiv παράξενος in der Malalas-Chronik auffällig oft vor: Es könnte beinahe als eines der 'Lieblingsworte' des Chronisten gelten; Malalas nimmt dabei den intensiveren mittel- und spätbyzantinischen Gebrauch des Wortes vorweg. Die weiteren Malalas-Belege neben vorliegender Stelle finden sich in Malal. II 8 (2x) βάμματος παραξένου und ἐκ τῆς θαυμαστῆς καὶ παραξένου φορεσίας; Malal. V 27 ξίφη παράξενα φοροῦντες καὶ σφενδοβόλα καὶ ἀσπίδας τετραγώνους; Malal. VII 6 ὡς παραξένου τινὸς θέας μελλούσης γίνεσθαι; Malal. XVI 19 ὥς τινος παραξένου προστιθεμένου τῇ πίστει τῶν χριστιανῶν.

In all diesen Passagen deckt παράξενος ein nuanciertes, letztlich jedoch kohärentes Bedeutungsspektrum ab: 'nicht gebräuchlich (und aus diesem Grund) komisch, merkwürdig (und deshalb in letzter Konsequenz) auffällig, aufsehenerregend'. παράξενος wird bevorzugt verwendet für die Beschreibung ungewöhnlich aussehender Einzelgegenstände fremder Herkunft bzw. Manufaktur (II 8 'außergewöhnlicher Farbstoff', der Purpur der Phönizier; V 27 Schwerter, Schleudern und Schilder des von Memnon befehligten 'indischen' [so Malalas] Heeres in Troja) bzw. generell für die Tracht und äußere Erscheinung fremder Völker (II 8 'wunderbar und außergewöhnlich' ist die purpurrote Kleidung des Königs der Phönizier); immer noch mit Bezug auf eine ungewöhnlich optische Wirkung, jedoch ohne Verweis auf das 'Fremdsein' im Ausdruck παραξένου τινὸς θέας 'ungewöhnliches Schauspiel' in Malal. VII 6 [Pferderennen des Remus]. παράξενος qua 'aufsehenerregend' ohne Bezug auf das konkrete Aussehen, sondern eher im Sinne von 'unerhört, ohne Parallelen' (und deshalb inhaltlich anstößig) nur in Malal. XVI 19: „ein fremder Zusatz zum christlichen Glaubensbekenntnis“ [bezogen auf Anastasios' berühmte σταυρωθείς-Ergänzung des Trisagions; zur Trisagion-Passage in der O-Version des Malalas einschlägig Meier 2007c, 164–167].

Die Bedeutung des hiesigen παράξενος-Beleges entspricht gut dem sonstigen 'optischen' Malalas-Usus, denn das, was an dem Volk der Awaren besonders 'aufsehenerregend' anmutet, ist ihre äußere Erscheinung, genauer ihre Frisur; diese wird von Theoph. 232, 9–10 de Boor als "ellenlanges Haar auf dem Rücken, von Bändern zusammengebunden und eingeflochten" beschrieben (τὰς κόμας ὅπισθεν μακρὰς πάνυ, δεδεμένας πρανδίοις καὶ πεπλεγμένας): Es sind "tresses ... à la chinoise" (Stein 1949, 542). Theoph. 232, 7–8 de Boor betont ausdrücklich die visuelle 'παραξενία' der Awaren, indem er sagt, dass "die ganze Stadt zur Schau (θέα) rannte, da sie ein solches Volk niemals gesehen hatten (μηδέποτε ἑωρακότες)" (zu Theophanes' Abhängigkeit von einer längeren Fassung der Malalas-Chronik an dieser Stelle siehe Rochow 1983, 471; keine Zweifel daran hat Stein 1949, 542 Anm. 2 "Theophan. ... d'après le Malalas complet").

Beim chronologisch frühesten erhaltenen Beleg von παράξενος – dem einzigen Beleg aus der vorchristlichen griechischen Literatur, laut Olson 2002, 206 eine "Aristophanic coinage" – kommt der etymologisch bedingte Bezug auf das 'Fremdsein' noch stark zum Tragen vor: Aristoph. Ach. 518 ἀνδράρια ... ἄτιμα καὶ παράσημα καὶ παράξενα, "Männchen ... ehrlos, unecht, illegitim und fremd" ('illegitimate and foreign', Olson 2002, 207; Aristophanes' Zielscheibe sind Leute, die auf dem Papier Athener sein mögen, sich aber konkret wie Eindringlinge bzw. Außenseiter verhalten, da sie die innere Ordnung der Polis durch ihre Anschuldigungen gegen Megara gestört und somit den Peloponnesischen Krieg verursacht haben). Selbst wenn die aristophanische Bedeutung des Adjektivs die ursprüngliche sein sollte (was mangels zeitgenössischer Belege unbeweisbar ist), lässt sich die Bedeutungsverschiebung von 'fremd' (LSJ I s.v. παράξενος) zu 'fremdartig' (LSJ II s.v. παράξενος) leicht nachvollziehen.
(Laura Carrara)
2/3 τῶν λεγομένων Ἀβάρων: Das Partizip λεγόμενος fungiert hier nicht, wie recht häufig und geradezu redundant in der Malalas-Chronik, als Rückverweis auf eine bereits erwähnte bzw. thematisierte Person, Begebenheit oder Zeitspanne ("the aforesaid", siehe für diesen Usus VII 2, 1f., mit Verweis auf James 1990, 224), sondern bedeutet 'das sogenannte' und dient zur Einleitung eines bisher unerwähnten Namens (die Awaren erscheinen nicht davor, und freilich auch nicht mehr danach in der Malalas-Chronik); vgl. für diesen Gebrauch – den normalen (siehe LSJ s.v. λέγω 10 Passiv) – des Partizips λεγόμενος z.B. auch Malal. I 6 τὸν Νεῖλον ποταμὸν τὸν λεγόμενον Χρυσορύαν; Malal. I 9 ἄλλον υἱὸν λεγόμενον Χείρωνα; in Buch XVIII z.B. Kap. 65 παρὰ τῷ λεγομένῳ Νυμφίῳ ποταμῷ; Kap. 90 τῆς λεγομένης Χρυσῆς πόρτας.

Weitere ähnliche (jedoch nicht identische) λεγόμενος-Konstrukte in Buch XVIII finden sich in Kap. 94 ἐν τῷ λεγομένῳ Αὐγουστεών (XIII 12, 6) und in Kap. 45 ἐν τῇ ἐκκλησίᾳ τῇ λεγομένῃ Κασσιανοῦ (XVIII 45, 3). (Laura Carrara)
Parallelüberlieferung
Theoph. 232, 6–14 de Boor; Cramer Anecd. 2, 114, 10–13
Literatur
Blockley (1985b): Blockley, R. C.: The History of Menander the Guardsman. Introductory Essay, Text, Translation, and Historiographical Notes, Liverpool, 1985.
Chilmead (1691): Chilmead, Edmund: Johannis Antiocheni cognomento Malalae Historia Chronica … nunc primum edita cum Interpret. & Notis Edm. Chilmeadi …, Oxonii, 1691.
Dindorf (1831): Dindorf, Ludwig: Iohannis Malalae Chronographiae ex recensione L. Dindorfii, Bonn, 1831.
James (1990): James, Alan: The language of Malalas, 1: General survey, Jeffreys, Elisabeth/Croke, Brian/Scott, Roger, Studies in John Malalas, 6, Sydney 1990, 217–224.
Meier (2007c): Meier, Mischa: Σταυρωθεὶς δι' ἡμᾶς – Der Aufstand gegen Anastasios im Jahr 512, Millennium, 2007, 157–237.
Nechaeva (2014): Nechaeva, Ekaterina: Embassies – Negotiations – Gifts. Systems of east Roman Diplomacy in Late Antiquity, Stuttgart, 2014.
Olson (2002): Olson, Douglas S.: Aristophanes: Acharnians, edited with introduction and commentary., Oxford, 2002.
Pallas-Brown (2000): Pallas-Brown, Rachael: East Roman Perception of the Avars in the mid- and Late Sixth Century, Ethnicity and Culture in Late Antiquity, 2000, 309–329.
Pohl (1988): Pohl, Walter: Die Awaren. Ein Steppenvolk in Mitteleuropa 567–822 n. Chr, München, 1988.
Rochow (1983): Rochow, Ilse: Malalas bei Theophanes, Klio, 1983, 459–474.
Sarantis (2016): Sarantis, Alexander: Justinian's Balkan Wars: Campaigning, Diplomacy and Development in Illyricum, Thrace and the Northern World A.D. 527-65, Prenton, 2016.
Stein (1949): Stein, Ernest: Histoire du Bas-Empire, Tome II. De la disparition de l’Empire d’Occident à la mort de Justinien (476–565), Paris/Bruxelles/Amsterdam, 1949.
Thurn (2000): Thurn, Johannes: Ioannis Malalae Chronographia, Berolini et Novi Eboraci, 2000.